W, X, Y, Z …?
Wer wir sind und wie wir uns entwickeln, liegt in unseren Genen. Sie sind aufgereiht in langen Ketten, die an verdrehte Strickleitern erinnern. Diese Ketten liegen eingerollt in unseren Chromosomen, von denen wir insgesamt 23 Paare in jeder Zelle haben. Ob ein Baby sich männlich oder weiblich entwickelt, hängt vom 23. Chromosomenpaar ab. Wir alle haben 22 Doppel-X-Chromosomen, bei Männern liegt an 23. Stelle das XY-Chromosomenpaar. Frauen haben hier ebenfalls ein Doppel-X. Das Y-Chromosom bestimmt, ob sich ein Baby männlich oder weiblich entwickelt. Und genau dieses läuft Gefahr, zu verschwinden.
Der Mensch ist eines der wenigen Lebewesen, bei denen das Geschlecht vom XY-Chromosomenpaar bestimmt wird. Dieses System haben außer den Menschen alle anderen Säugetiere, die Fruchtfliege und einige wenige Fisch-, Eidechsen-, Amphibien- und Pflanzenarten, zum Beispiel der Ampfer. Andere Lebewesen haben auch andere Chromosomen-Systeme. Bei Vögeln gibt es zum Beispiel Doppel-Z-Chromosomen, das Geschlecht wird beim Weibchen durch das W-Chromosom bestimmt. Das XY-System hat seine Vor- und Nachteile, doch vor allem für Frauen überwiegen die Vorteile.
Männer sind anfälliger für Mutationen
Bei der Fortpflanzung werden die Gene der Partner miteinander vermischt, dieser Vorgang nennt sich Rekombination. Damit beim Kind später keine Erbschäden auftreten, können mutierte Gene, die später womöglich Krebs oder andere Krankheiten auslösen könnten, ersetzt werden. Dabei wird auf das jeweils andere X-Chromosom zurückgegriffen. „Frauen haben den Vorteil, dass sie das Geschlechtschromosom doppelt haben. Das gewährleistet, dass beschädigte Gene auf dem einen Chromosom durch die Kopie auf dem anderen kompensiert werden können“, erklärt Frank Edenhofer von der Uni Innsbruck. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Rot-Grün-Blindheit, die fast nur bei Männern vorkommt.
Das Gen, das die Rot-Grün-Blindheit auslösen kann, liegt auf dem X-Chromosom, von dem beim Mann ja eines fehlt. Hat eine Frau das Gen, kann der Körper den Fehler bei der Rekombination ausgleichen, indem er sich beim Bau der DNA an das intakte Gen im anderen X-Chromosom hält. Nachdem dieses beim Mann fehlt, kann das kaputte Gen nicht ausgeglichen werden. „Das X- und das Y-Chromosom können kaum mehr miteinander rekombinieren, weil sie sich nicht mehr ähnlich sind. So wird Letzteres immer mehr abgebaut”, sagt Edenhofer.
Der Gen-Master-Switch
Vor 160 Millionen Jahren war das noch nicht der Fall. Damals gab es einen Vorläufer des Y-Chromosoms, der identisch zum X-Chromosom war. Das Geschlecht wurde stattdessen von Umwelteinflüssen wie der Temperatur beeinflusst. „Man geht davon aus, dass sich bei der Entstehung des Y-Chromosoms ein ‚Master-Switch‘-Gen gebildet hat. Seitdem ist die Determination des Geschlechts genetisch festgelegt und nicht mehr abhängig von Umwelteinflüssen wie der Temperatur”, so Edenhofer.
Dadurch konnten sich die männlichen Gene aber weniger gut rekombinieren. Das hat über Millionen von Jahren dazu geführt, dass viele Gene, die auf dem Y-Chromosom liegen, verschwanden. „Auf dem Y-Chromosom haben sich mehr und mehr Gene angesammelt, die mit der Fruchtbarkeit der Männer zu tun haben. Das sind zum Beispiel diejenigen, die für die Spermienproduktion zuständig sind”, erklärt Edenhofer.
Werden jetzt alle Männer unfruchtbar?
Forscher sind sich nicht einig darüber, ob das Y-Chromosom tatsächlich verschwinden wird. „Es gibt auf jeden Fall die Diskussion, dass die fehlenden Rekombinationseigenschaften dazu führen könnten, dass es zu einem Verlust des gesamten Y-Chromosoms kommt. Und das in – nach Maßstäben der Evolution – relativ kurzer Zeit, nämlich in wenigen Millionen Jahren”, meint Edenhofer. Fest steht, dass dieses Schicksal schon ein paar Arten ereilt hat, so zum Beispiel den Mull-Lemming. Der gehört zur Art der Wühlmäuse und lebt in Asien, er hat den Verlust des Y-Chromosoms also ganz gut verkraftet. Beim Menschen könnte der Verlust des Y-Chromosoms allerdings die Fruchtbarkeit von Männern verringern. „Wie sich das dann beim Menschen auswirken könnte, der ja doch ein viel komplexeres Lebewesen als ein Mull-Lemming ist, ist die Frage. Da mag der Verlust des Y-Chromosoms schon dramatischer sein”, sagt Edenhofer.
Über Unfruchtbarkeit wegen einem fehlenden Chromosom müsse sich aber noch lange niemand Gedanken machen. Die Fertilität würde wenn, dann noch eher von Umweltgiften wie Pestiziden beeinflusst, aber auch das sei eine umstrittene Theorie. Allerdings steht es generell nicht gerade gut um die Fruchtbarkeit des Menschen. Die Zahl der Paare, die sich künstlich befruchten lassen, steigt nämlich immer weiter an.