Wikipedia ist nicht nur unter den meisten ForscherInnen ein Tabu, auch in anderen gesellschaftlichen Kreisen wird die Enzyklopädie nicht als vertrauenswürdige Quelle angesehen. Das verhindert den notwendigen Diskurs über ein Medium, das ohnehin die meisten verwenden.
Die Frauen* in Rot
Die Wikipedia hat ein großes Problem. Die Plattform möchte so viel Wissen wie möglich zu Verfügung stellen, scheitert jedoch daran, die Gesellschaft vollständig abzubilden. Nur 16 Prozent der Biografien in der Wikipedia handeln von Frauen, was dazu führt, dass viele Frauennamen in Wikipedia-Artikeln rot gekennzeichnet sind, da für diese Namen noch kein Artikel existiert.
Sandra Folie von der Uni Wien ist selbst Wikipedia-Redakteurin und hält auch ein Seminar zum Gender-Wiki-Gap dazu. Sie erklärt, dass es diese Lücken deswegen gibt, weil nur ein Bruchteil der Wikipedia-RedakteurInnen weiblich sind – in etwa neun Prozent. „Die erzeugende Gruppe, besonders die weiße, männliche, heterosexuelle Mehrheit, reproduziert sich selbst, indem sie in erster Linie das Ähnliche und Bewährte sucht und auch findet.“ Kurz gesagt schreiben in der Wikipedia, sowie laut Folie auch in Enzyklopädien wie der Brockhaus Enzyklopädie, Männer über andere Männer.
Das Problem ist seit einigen Jahren von der Wikipedia Foundation anerkannt, seit 2015 gibt es auch einen Artikel dazu. Neben dem Einführen einer einfacheren Bedienoberfläche für RedakteurInnen werden regelmäßig sogenannte „edit-a-thons“ veranstaltet, bei denen versucht wird, so viele Artikel wie möglich über Frauen oder frauenspezifische Themen neu zu erstellen oder bestehende zu verbessern. In diesem Zusammenhang wurden auch die Gruppierungen „Women* in Red“ bzw. „Frauen* in Rot“ ins Leben gerufen, die dasselbe Ziel verfolgen. „Es sollen so viele rote Links auf fehlende Frauenbiografien wie möglich in blaue umgewandelt werden“, erklärt Folie deren Aufgabe.
Erst seit dem Nobelpreis „relevant“
Zu der geringen Anzahl an Redakteurinnen kommt, dass Wikipedia erst seit 2016 eine benutzerInnenfreundliche Oberfläche für RedakteurInnen hat. Davor hat die Erstellung von Artikeln ähnlich wie HTML funktioniert – man musste also Grundverständnisse im Programmieren mitbringen, was prinzipiell viele Menschen ausschließt. Außerdem gibt es in der Wikipedia eine Hierarchie unter RedakteurInnen. Diejenigen, die weiter oben angesiedelt sind und gewisse Rechte haben, wie etwa, zu bestimmen, dass ein Artikel irrelevant ist und deshalb gelöscht werden muss, sind in der Regel Männer.
„Untersuchungen zeigen, dass RedakteurInnen, wenn sie ein Thema auf seine Relevanz hin überprüfen, bei Frauen tendenziell einen höheren Standard anlegen als bei Männern.“
Sandra Folie
„Dieses Umfeld reproduziert sich ein Stück weit selbst, beispielsweise durch technischen Slang, der für angehende Redakteurinnen schwer zu verstehen ist, und eine generell eher ausgrenzende Kommunikationskultur, die von vielen als misogyn wahrgenommen wird“, führt Sandra Folie aus. Dadurch würden Artikel über Frauen oder frauenspezifische Themen als nicht relevant genug eingestuft und gelöscht oder gar nicht erst veröffentlicht.
„Das geschieht teils bewusst, teils aber auch unbewusst, in der vollen Überzeugung, ganz objektiv die für die Enzyklopädie ‚relevantesten‘ Themen und Personen abzubilden“, so Folie. „Untersuchungen zeigen, dass RedakteurInnen, wenn sie ein Thema auf seine Relevanz hin überprüfen, bei Frauen tendenziell einen höheren Standard anlegen als bei Männern.“ Gezeigt hat das die Diskussion um die Laserphysikerin Donna Strickland, die erst, nachdem ihr 2018 der Nobelpreis in Physik verliehen wurde, einen Eintrag in der Wikipedia erhielt.
Diskurs über Wikipedia fehlt
Fehlende Diversität ist allerdings nicht das einzige Problem, das die Wikipedia hat. Ihr Ruf als Informationsquelle ist denkbar schlecht. Selbst Volksschulkindern wird bereits eingebläut, dass sie für ihre Referate bloß nicht in der Wikipedia nachschauen sollen. Meist wird Wikipedia allerdings doch verwendet bzw. sogar plagiiert, ohne, dass die Quellen des Artikels auf ihre Seriosität überprüft werden. „Solch eine ‚versteckte‘ Nutzung der Wikipedia fördert nicht den kritischen Umgang mit Medien, der in Zeiten von ‚Fake News‘ besonders zentral wäre“, kritisiert Folie.
Der schlechte Ruf der Wikipedia führt also dazu, dass zu wenig über die tatsächliche (fehlende) Qualität der Inhalte diskutiert wird, wodurch sich die Qualität infolge auch nicht zum Besseren wendet. „Da ohnehin fast jedeR die Wikipedia nutzt, wäre es meines Erachtens nach sinnvoller, einen kritischen Umgang damit anzuregen, also sich anzuschauen, wie sich Wikipedia-Artikel unterscheiden können“, meint Folie.
Der fehlende Diskurs über die Enzyklopädie schadet also nicht nur der Diversität, sondern auch der Qualität der Inhalte. Doch es gibt noch mehr Baustellen: „Auch wenn sich der gender bias in der Wikipedia sehr langsam verringert, gibt es noch viel zu tun, gerade auch im Hinblick auf die Einbeziehung und Darstellung von LGBTQ-Personen und Themen jenseits der Geschlechtsbinarität Mann/Frau“, so Folie. Doch auch hierzu gibt es mittlerweile zumindest einen Wikipedia-Artikel.