Wer ist in Österreich arm?
Armut hat mehrere Gesichter als Obdachlosigkeit und Hunger. Es geht auch um die Frage, ob ein Mensch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann. Wie diese Faktoren am besten erfasst werden können, ist umstritten und dementsprechend groß ist die Vielfalt der Definitionen von Armut. Eine wichtige Unterscheidung ist die zwischen akuter Armut und Armutsgefährdung:
Von akuter Armut – auch manifeste Armut genannt – betroffen sein heißt, „Einschränkungen in zentralen Lebensbereichen“ zu erfahren. Hierzu zählen, seine Wohnung nicht warmhalten zu können, sich keine Waschmaschine oder kein Telefon/Handy leisten oder nicht ein Mal im Jahr Urlaub zu machen zu können. Wer mit vier von neun solcher Einschränkungen lebt, gilt in der EU als „erheblich materiell depriviert“. In Österreich sind das derzeit rund 4% der Bevölkerung.
Als einkommensarm oder „armutsgefährdet“ gilt in der EU, wessen Haushaltseinkommen – und hierzu zählen auch Sozialleistungen wie Wohn- oder Kinderbeihilfe und auch Kapitalerträge – unter einer bestimmten Schwelle liegt. In Österreich liegt sie bei 1163 Euro netto (als Jahreszwölftel – nicht mal 14!) für einen Ein-Personen-Haushalt. Leben mehrere Personen in einem Haushalt, liegt die Schwelle pro Person wesentlich niedriger.
Doch wie berechnet man die Einkommensgrenze, ab der die Teilhabe an der Gesellschaft und Zugang zu Kommunikation, Bildung usw. gefährdet ist? Christine Stelzer-Orthofer vom Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik der Universität Linz erklärt, warum Armut und soziale Ausgrenzung keine Randphänomene sind:
Wie entsteht die Zahl 1163?
Christine Stelzer-Orthofer: Durch Befragungen wird das mediane Einkommen erhoben – das bedeutet 50 der Befragten liegen drunter und 50% der Befragten liegen drüber. Wer weniger als 60% von diesem medianen Einkommen zur Verfügung hat, gilt als armutsgefährdet. Das sind derzeit 1,5 Millionen Menschen.
Fühlen sich diese 1,5 Menschen auch armutsgefährdet?
Man darf nicht vergessen, dass diese Zahlen Annäherungen sind: Nicht jeder, der die Grenze von 1163 Euro unterschreitet, fühlt sich arm. Es gibt auch MindestpensionistInnen, die sagen “Ich fühl’ mich gar nicht arm“, das hängt von vielen Faktoren ab.
Nur die Einkommensseite zu beachten, ist eine Schwäche der Berechnungsmethode. Aber Einkommen ist nun einmal ein zentraler Faktor, nicht zuletzt auch, weil fast alle Sozialleistungen in ihrer Höhe vom Erwerbseinkommen abhängen. Wir Armutsforscher versuchen, ungefähr die Gruppe auszumachen, die armutsgefährdet ist.
Kann Arbeitsmarktpolitik die zentrale Antwort zur Bekämpfung von Armut bleiben? Was bedeutet Aktivierung?
Das ist ein Schlagwort, das seit 20 Jahren in der Debatte um den Wohlfahrtsstaat gebraucht wird, das zwei Facetten hat.
Einerseits wird behauptet, Ziel eines Abbaus sozialstaatlicher Sicherungen wäre Aktivierung von Menschen. Mit der Begründung, dass entweder der Mensch selber Schuld wäre an seiner Arbeitslosigkeit, weil er nicht arbeiten wollen würde. Oder der Staat und seine Institutionen wären schuld, weil sie beispielsweise vermeintlich zu hohe Kollektivverträge hervorbringen und dadurch für hohe Arbeitslosigkeit und eine Anspruchsmentalität der Betroffenen sorgen würden.
Mit Aktivierung ist aber andererseits gleichzeitig oft gemeint, dass man die Leute nicht in der sogenannten Wohlfahrtsabhängigkeit belassen will. Es soll vermieden werden, dass sich jemand seine finanzielle Unterstützung abholt und ansonsten zunehmend passiv verhält.
Es braucht Möglichkeiten, sich in die Gesellschaft zu integrieren und teilzuhaben, und da unsere Gesellschaft eine von Arbeit dominierte ist, bedeutet eine solche Möglichkeit oft auch Arbeit.
Die Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen lebt. Wo ist der Unterschied zur Mindestsicherung, die wir ja schon haben?
Das Konzept des Bedingungslosen Grundeinkommens sieht einen monatlichen existenzsichernden Betrag für alle Menschen vor, das heißt: Jeder und jede soll durch diese Art der Unterstützung ausreichend versorgt sein. Das ist eine Art Zukunftsvision, die noch in keinem Land verwirklicht wurde. Zum Unterschied dazu ist die österreichische Mindestsicherung eine Basisversorgung für bedürftige Menschen, also für Personen, die kein Geld, kein Vermögen oder keine andere finanzielle Absicherung haben, meist ohne Job oder nur mit einem ganz schlecht bezahlten.
Und hier darf man übrigens – bei jedem Betrag, der diskutiert wird – nicht vergessen, dass die Mindestsicherung zwölf Mal im Jahr ausbezahlt wird. Ein Gehalt, auch ein niedriges, bekommt man 14 Mal, das ist ein Riesenunterschied.
Was bedeutet eigentlich „prekär“?
Eine Definition lautet: Ein Arbeitsverhältnis ist umso prekärer, je weniger arbeits- und sozialrechtlicher Schutz besteht, je niedriger das Gehalt und je kürzer die Dauer des Dienstverhältnisses ist.
Warum? Mir ist bewusst, prekäre Arbeitsverhältnisse können auf den ersten Blick auch attraktiv sein, weil ich mobil und flexibel bin. Manche jungen Leute wollen darüber nicht nachdenken, was ist, wenn es nicht wie gewohnt weitergeht. Das sind nicht die, denen es in der Gesellschaft am schlechtesten geht.
Aber sobald irgendetwas passiert – ein Unfall etwa, oder es ändern sich die eigenen Lebensbedingungen – wird es oft schwierig.
Was wäre ein klassisches Beispiel?
Freier Dienstnehmer oder Teilzeit. Es gibt ja Leute, die sagen: „Ich arbeite gerne in Teilzeit, weil dann hab ich mehr Zeit für andere Dinge, ich brauche nicht viel und kann es mir leisten.“ Aber erstens ist Teilzeit nicht immer freiwillig und zweitens ist es eine Frage, wie lange diese Situation andauert. Wenn ich 30, 40, 45 werde und aus der Teilzeit irgendwann nicht mehr rauskomme, obwohl ich will, kann es eng werden. Auch weil wie gesagt viele Sozialleistungen vom Einkommen abhängen, nicht zuletzt die Pension.
Denken die Jungen zu wenig an die Pension?
Also als ich jung war, haben wir auch nicht an unsere Pensionen gedacht. Aber es ist doch so: Unser Pensionssystem war von Vornherein als 3-3-3-Modell konzipiert und jetzt tun alle so, als ob das etwas Neues wär, dass der Staat zuschießt.
Der nächste häufige Irrtum: Die Sicherheit unseres Pensionssystems hängt nicht von der Demographie ab – also davon, wie viele junge und wie viele alte Menschen es in der Gesellschaft gibt –, sondern von der Menge der Erwerbstätigen. Und wir haben so viele Erwerbstätige wie nie zuvor, wichtig ist eben, dass diese Erwerbstätigen auch ins Pensionssystem einzahlen.
Auch das Sozialsystem braucht Vertrauen. Wenn ich jungen Menschen sage, „Ihr werdet sowieso keine Pension mehr bekommen!“, dann engagieren die sich ja auch nicht, um einen Job zu bekommen, bei dem sie ins System einzahlen und später wieder etwas herausbekommen.
Autorin: Irina Zelewitz