„Ohne Musik wäre die Welt viel grauer. Es gäbe mehr Streitigkeiten und Vereinsamung“, sagt Tecumseh Fitch. Der Professor für Kognitionsbiologie an der Universität Wien ging unlängst in einem Artikel der Frage nach, aus welchem Grund Musik ursprünglich entstanden ist. Der Artikel erschien in der Fachzeitschrift „Behavioral and Brain Sciences“ – als einer von 62 Artikeln, in denen Wissenschafter*innen aus aller Welt diese Frage erforschten.
Als leitender Autor schrieb Fitch den Artikel zusammen mit einem international besetzten Team aus den Fachbereichen Neurowissenschaft, Psychologie, Ethnomusikologie und Paläoanthropologie. Ihre These: Musik stellt ein universelles Werkzeug für soziale Bindungen dar.
Musizieren schafft Vertrauen
„Unser Forschungsansatz geht von der Idee aus, dass die Musik unseren Vorfahren ein mächtiges Werkzeug an die Hand gab, um dauerhafte soziale Bindungen zu knüpfen“, erklärt Fitch. Obwohl diese Theorie nicht völlig neu ist, waren frühere Entwürfe unvollständig entwickelt und wurden vom aktuellen wissenschaftlichen Konsens meist abgelehnt.
„Wir versuchen, die intuitive Idee zu retten, dass das gemeinsame Musizieren – wie es die Menschen wahrscheinlich seit etwa einer Million Jahren tun – neuronale Schaltkreise aktiviert, die positive Gefühle der Nähe und des Vertrauens zu anderen erzeugen“, so der Kognitionspsychologe.
Gesang, Tanz und Schlaginstrumente
Aufgrund von Fragmenten von Flöten, die in Deutschland gefunden wurden, könne mit Sicherheit gesagt werden, dass Menschen schon vor 40.000 Jahren anspruchsvollere Musik mit Tonleitern machten. Aber schon lange davor hätten Menschen gesungen, getanzt und mit Schlaginstrumenten gespielt – „das waren die Zutaten der ältesten Form von Musik“, sagt Fitch.
Als sich der Mensch weiterentwickelte, sei er immer stärker davon abhängig geworden, dass Gruppen gut zusammenarbeiten. Musik sei hier eine „entscheidende Schlüsselinnovation“ gewesen: „Sie verhalf unserer Spezies zu den nötigen komplexen und positiven Gruppeninteraktionen.“
Uneinigkeit unter Forscherteams
Ein weiterer Artikel in der Ausgabe von „Behavioral and Brain Sciences“ spricht sich allerdings gegen die These von Musik als universellem Werkzeug für sozialen Bindungen aus: Samuel Mehr, der am Institut für Psychology der Harvard University forscht, vertritt die These, dass sich die adaptiven Vorteile der Musik spezifisch für bestimmte Kontexte entwickelten, etwa für die Kinderbetreuung.
„Unsere Theorie der allgemeinen sozialen Bindungsfunktion der Musik deckt diese und die meisten anderen Theorien mit ab“, argumentiert Fitch. Insgesamt stelle die Artikelserie jedenfalls einen Meilenstein in der Erforschung der menschlichen Evolution dar. Schließlich sei Musik als Mittel zur Bildung von Gruppenzugehörigkeit „ein entscheidender Schritt auf unserem Weg von affenähnlichen Vorfahren zu den großen, komplexen Gesellschaften, in denen wir heute leben“ gewesen.