Liebes Tagebuch,
inzwischen habe ich mich ein bisschen an Soylent gewöhnt. Ich will nicht sagen, dass ich es als normal ansehe, aber irgendwie hat es Einzug in meine tägliche Routine gefunden: das Abschätzen der Pulvermenge, je nach Hunger; das Shaken und das erfrischende Plopp, wenn man den Deckel der Shakerflasche öffne. Irgendwie macht diese äußerst simple, aber effiziente Zubereitungsmethodik sogar ein bisschen Spaß.
Der verlockende Duft der Bäckereien
Gleichzeitig merke ich, dass ich beginne, “echte Nahrung” zu vermissen. Die ersten beiden Tage war es vielleicht nicht so schlimm, da ich von zu Hause gearbeitet habe und deshalb wenigen externen Stimuli ausgesetzt war. Das war heute anders. Bereits auf dem Weg ins Büro (mein Shaker samt meiner Mittagsportion Soylent im Gepäck) habe ich den verlockenden Duft der Bäckereien wahrgenommen. Ziemlich bewusst. Eigentlich so wie noch nie. Im Verlauf des Tages wurde mir immer klarer, was ich eigentlich zurücklasse.
Weiße Flecken auf der Essens-Landkarte
Wenn man durch Wien spaziert, wird man permanent mit Essen konfrontiert. Von Imbissbuden und Fast-Food-Ketten, über Eck-Cafés oder Restaurants, bis hin zu Märkten und Supermärkten – feste Nahrung ist in aller Munde. Normalerweise, hätte ich mir schon längst ein irgendwo ein Weckerl geholt, aber wenn man entscheidet, vollkommen zu verzichten, entstehen plötzlich große, weiße Flecken auf der Essens-Landkarte. Mir fallen Hanni Rützlers Worte ein: “(Wir essen ja nicht nur, um unseren physiologischen Bedarf zu decken, sondern auch weil wir Lebensmittel schmecken und genießen wollen, weil wir Freude an der Zubereitung und am gemeinsamen lustvollen Verzehr haben.) Speisen sind ein Kulturgut.”
„Ohne jeglichen Genuss nuckle ich an der Flasche.“
Am Heimweg bahne ich mir meinen Weg zwischen Kebabstand und Konditorei. Mit Grauen denke ich an meine eigene nächste Mahlzeit. Daheim angekommen nuckle ich ohne jeglichen Genuss ich an der Flasche. Heute ist Erdbeergeschmack an der Reihe. Es erinnert an einen sehr cremigen Smoothie und ist geschmacklich sogar die größte Offenbarung bisher – was aber leider absolut nichts bedeutet. Den ganzen Tag den selben Brei zu trinken, führte heute zur Überschreitung meines spezifischen Geschmackslimits. Recht viel mehr geht nicht. Ich beende die Übung äußerst widerwillig. Als das Sättigungsgefühl eintritt, durchdringt mich ein kurzer Anflug von Zufriedenheit: Schrödinger sei Dank muss ich heute kein Soylent mehr trinken. Bis morgen!