Es war eine zu der Zeit einzigartige Sozialstudie: Die Arbeitslosen von Marienthal. SozialwissenschaftlerInnen untersuchten ein Dorf, das mit der Schließung einer Textilfabrik arbeitslos wurde, auf Herz und Nieren. Jetzt haben Studierende der Uni Wien eine Gemeinde in einer ähnlichen Situation untersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass Arbeitslosigkeit heute anders funktioniert als damals.
Weltwirtschaftskrise
Marienthal ist eine Siedlung in der niederösterreichischen Gemeinde Gramatneusiedl. 1300 Menschen lebten in den Dreißiger Jahren dort, sie alle verloren aufgrund der Weltwirtschaftskrise kurzfristig ihre Anstellung in der dort angesiedelten Textilfabrik. Die darauffolgende Untersuchung der Dorfgemeinde durch die SoziologInnen Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld zählt zu den bekanntesten empirischen Studien der Soziologie.
In der Studie wurde untersucht, wie sich Langzeitarbeitslosigkeit auf Menschen auswirkt. Man nahm an, es würde zu Revolten kommen, doch das Gegenteil war der Fall. Die BewohnerInnen der Siedlung verfielen in passive Resignation. Die Studie ist allerdings nicht wegen ihrem Ergebnis so markant, sondern wegen den vielfältigen Methoden, die zum Einsatz kamen. Neben Interviews mit Betroffenen wurden beispielsweise Inventarlisten der Haushalte erstellt oder die Gehgeschwindigkeit der Arbeitslosen erfasst.
Marienthal 2.0?
Nun gab es in der Gemeinde Gramatneusiedl wieder einen ähnlichen Fall. Die letzte dort angesiedelte Fabrik schloss 2017 ihre Türen. Das nahmen Studierende von der Uni Wien rund um unter anderem Christoph Reinprecht zum Anlass, Arbeitslosigkeit im 21. Jahrhundert zu untersuchen und einen Vergleich zu Marienthal in den Dreißiger Jahren zu ziehen.
Was bedeutet es für einen Ort und die Menschen dort, wenn sie plötzlich arbeitslos werden? Um das herauszufinden, gingen die Studierenden „ins Feld“. Sie führten zahlreiche Gespräche mit allen möglichen Betroffenen, wodurch sich ein dichtes, vielschichtiges Bild der Situation ergab. Doch es dauerte, bis sich das Dorf ihnen öffnete. Zuerst lief es schleppend, da Betroffene nicht über die Schließung reden durften, später habe sich das geändert, so der Soziologe.
Arbeitslosigkeit heute
Der Ort wird stehts mit dem Schicksal der Arbeitslosen von Marienthal in Verbindung gebracht, auch das dürfte ein Grund für die Verschwiegenheit der Menschen gewesen sein. Selbst in den Medien war kaum von der Schließung die Rede, anders als in den Dreißiger Jahren. „Damals erregte die Schließung der Fabrik viel mehr Aufmerksamkeit“, sagt Reinprecht. „Das lag auch an der Arbeiterbewegung.”
Dass die Schließung kaum ein Thema im Ort war, anders als noch 1930, ist auch eine Folge der Globalisierung. „Die Entwicklungen am Weltmarkt lösen bei vielen ein Gefühl der Machtlosigkeit aus und fördern die Entsolidarisierung mit ArbeiterInnen“, so Reinprecht.
Der direkte Vergleich von Gramatneusiedl heute zu Marienthal damals liegt zwar scheinbar nahe, kann durch die grundlegend verschiedenen Umstände allerdings nicht gezogen werden. Die Arbeit der Studierenden wurde in Gramatneusiedl ausgestellt, auf der Website der Gemeinde sind die Ergebnisse des Projektes „Marienthal 2.0″ zu finden.