Hunderte Lawinen gehen jedes Jahr in den Alpen ab. Im vorangegangen Kalenderjahr verzeichnete die Alpinpolizei 101 Lawinenunfälle – insgesamt 17 Menschen kosteten diese das Leben. Lawinenunglücke, bei denen ganzen Dörfer in Mitleidenschaft gezogen werden und entsprechend viele Menschen das Leben verlieren stellen aber Ausnahmen dar. Bebauungspläne sorgen dafür, dass keine neuen Gebäude in bekannten Gefahrenzonen ohne entsprechende Schutzmaßnahmen errichtet werden. Dazu zählen Lawinendämme oder auch -keile. Diese spalten die anfließenden Schneemassen auf und schützen so dahinter befindliche Gebäude.
Im alpinen Raum trifft man vor allem bei alten Bauernhäusern auf diese meist aus Steinen oder Erdreich gebauten dreieckigen Bewehrungen. Dörfer werden dagegen häufiger mit großräumigeren Umlenk- und Bremsverbauungen geschützt. Am Hang selbst können Schneebrücken und -netze das Abgehen von Lawinen verhindern. Auch die Aufforstung von Hanglagen – sogenannter Schutzwald – sorgt dafür, dass der Schnee nicht ungebremst ins Tal gleiten kann. Häufig wird die Schneedecke auf gefährdeten Hanglagen auch gesprengt, um so eine kontrollierte Lawine auszulösen. Das garantiert etwa, dass die zu Tal fließenden Schneemassen die Kapazität der Schutzvorkehrungen nicht überschreiten.
Lawinensicherheit gibt es nicht
Aufgrund der Wechselwirkung von Lage, Gelände und Wetter – Sonnenschein, Wind und Niederschlag – unterscheidet sich die Beschaffenheit einer Schneedecke auf einem Hang. Es ist daher nicht möglich, exakt vorherzusagen, wann und wo eine Lawine abgehen wird. Lediglich wie wahrscheinlich es ist, dass sie sich löst. Darauf basieren Lawinenwarnungen.
Für die Beurteilung von Risiken sind Erfahrungswerte lokaler Bergführer und der Bergrettung vor großer Bedeutung. Nur wer die Risikofaktoren wie Steil- und Schattenlagen oder Triebschneeverwehungen erkennen und abwägen kann, sollte sich ohne professionelle BergführerInnen ins Gelände abseits der präparierten Pisten wagen.
Mehr Sicherheit am Berg dank Informatik?
Ziel von ForscherInnen ist es diese Risiko-Einschätzungen von BergführerInnen und Bergrettung wissenschaftlich zu unterstützen. Dazu zählt die systematische Entnahme von Schneeprofilen und deren Dokumentation. Das ist ein Querschnitt der Schneedecke, der zur Untersuchung der einzelnen Schichten angelegt wird.
Modelle basierend auf Mix aus Erfahrung und Technik
An der Karl-Franzens-Universität Graz widmete man sich im Projekt „ALARM“ der ganzheitlichen Verbesserung des Risikomanagements. „Wir haben gewusst, dass eine integrative Herangehensweise das Lawinenrisiko mindern wird“, erklärt der für den am Grazer Institut für Geographie und Raumforschung betreuten Projektteil Verantwortliche Gerhard Karl Lieb. Dazu wurden unterschiedliche Schneedecken-Prognosemodelle verknüpft. Deren Ergebnisse wurden mit den Erfahrungen lokaler Experten verglichen, um die Gültigkeit des Modells abschätzen zu können.
Zusätzlich griff man dabei noch auf Radar-Technologie zurück, um ein lückenloses Bild der Schneedecke zu erhalten. Damit wird es möglich, Informationen aus Hangbereichen zu erhalten, in denen Begehungen und Profilentnahmen, etwa aufgrund von Lawinengefahr, nicht möglich sind. Ob Radargeräte flächendeckend angebracht werden, ist nicht zuletzt eine Kostenfrage.
Professionalisierung von Lawinenkommissionen
Ein weiteres Ziel war, herauszufinden, welche Informationen lokale ExpertInnen benötigen und wie sich Kommunikations- und Entscheidungsprozesse in Lawinenkommissionen verbessern lassen. Das sind lokale Arbeitsgruppen ortskundiger und bergerfahrener Fachleute, die von lawinengefährdeten Gemeinden bestellt werden, um fundierte Risiko-Bewertungen zu erstellen und entsprechende Empfehlungen abzugeben. Das kann von Lawinenwarnungen, über Sprengungen gefährdender Hanglagen, bis hin zu Straßensperren und Evakuierungen reichen.
„Die größte Überraschung war sicherlich, wie sehr sich die Qualität des Risikomanagements in den untersuchten Gemeinden unterscheidet. Während in einem Gebiet sehr professionell gearbeitet wurde, stießen wir im anderen auf einen eher hemdsärmeligen Zugang“, sagt der Forscher des Instituts für Geographie. Das Projekt hat den Blick dafür geschärft, dass es neben technischem Know-how auch die richtigen sozialen Kompetenzen braucht, um Wissen und Expertise voll ausschöpfen zu können.
Für Lieb ist daher klar, dass dieser Aspekt in der Schulung von Lawinenkommissionen größere Aufmerksamkeit erfahren muss „Davon profitieren schließlich nicht nur Touristinnen und Touristen. Der Aufgabenbereich der Lawinenkommission umfasst auch die Sicherung aller Siedlungsgebiete und Verkehrswege. Das betrifft auch jene Menschen, die nicht am Berg unterwegs sind“, so Lieb. Nicht zuletzt helfen bessere Prognose- und Entscheidungsmodelle dabei, Lawinen-Schutzmaßnahmen an den Klimawandel anzupassen. Gerade alpine Regionen waren bereits bisher besonders stark von diesem betroffen.
Was ist eine Lawine überhaupt?
Für eine Lawine braucht es zumindest drei Zutaten: einen Hang, Schnee und Instabilität, die diesen ins Tal gleiten oder stürzen lässt. Anhand der Art des Abgangs unterscheidet man zwischen Schneebrett- und Lockerschneelawinen. Letztere sind durch eine punktförmigen Anriss (Ausgangspunkt der Lawine) gekennzeichnet: Loser Schnee kommt ins Rutschen. In einer Kettenreaktion reißt er immer mehr Schnee mit sich. Die Lawinen treten meist keilförmig auf sehr steilen Hängen, häufig nach Neuschneefällen oder starker Sonneneinstrahlung auf. Bei lockerem Pulverschnee können sie auch von Wintersportlern ausgelöst werden, verlaufen aber zumeist harmlos.
Schneebrett – besondere Gefahr für WintersportlerInnen
Bei einer Schneebrettlawine löst sich eine ganze Schneetafel linienförmig vom Hang. Das „Brett“ bezieht sich dabei nicht auf die Festigkeit des Schnees, sondern auf diese Art des Anrisses. Voraussetzung für ein Schneebrett ist das Vorhandensein mehrerer Schneeschichten in der Schneedecke. Diese bilden sich im Laufe des Jahres: Gefallener Schnee verdichtet sich durch Kälte und Sonnenbestrahlung. Neuere Schichten sind oft schlecht mit der darunterliegenden verbunden. Manchmal lagert sich auch vom Wind verwehter Schnee an windgeschützten Stellen ab. Dieser sogenannte Triebschnee ist in sich fest, aber nur lose mit dem Untergrund verbunden.
Den schlussendlichen Ausschlag für den Abriss eines Schneebretts gibt eine zusätzliche Belastung der Schneedecke, etwa durch Niederschlag oder eine/n SchifahrerIn. Eine Schicht in der Schneedecke bricht zusammen und stürzt samt allen darüber befindlichen Schichten ins Tal. Binnen weniger Sekunden können sich so große Teile eines Hanges lösen. Für ForscherInnen ist daher besonders interessant, wie diese Brüche in einer Schneeschicht entstehen und sich ausbreiten.
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Video: Der Snowboarder löst ein Schneebrett aus. Der Airbag sorgt dafür, dass er nicht unter den Schnee gerät. Sehr schön zu sehen in der letzten Einstellung: Der Anriss des Schneebretts.
Eine Lawine wie ein Wirbelsturm
Schneebrettlawinen bewegen sich mit einer Geschwindigkeit von 50 bis 100 Stundenkilometern. In besonders steilem Gelände kann sich eine Schneebrett- zu einer Staublawine entwickeln. Kleinere Schneeteile werden an der Spitze der Lawine aufgewirbelt und entfachen eine Sogwirkung, die weiteren Schnee aufwirbelt. Es kommt zur Bildung eines Schnee- und Luftgemisches. Begleitet wird die Lawine von wirbelsturmartigen Luftdruckunterschieden, wenn sie mit einer Geschwindigkeit von bis zu 300 Stundenkilometern einen Hang hinunterrast. Der Druck ist dabei so groß, dass Bäume einfach geknickt, Häuserdächer weggerissen und Fenster eingedrückt werden. Für Menschen besteht absolute Lebensgefahr: Wer in eine solche Lawine gerät, kann sehr schnell am feinen Schneestaub ersticken.
Entkommen ist unmöglich
Lockerschneelawinen können Wintersportler zwar mitreißen, es kommt aber anders als bei Schneebrettlawinen selten zu Verschüttungen. Da diese fast immer auch von den WintersportlerInnen selbst losgetreten werden, befinden sie sich bereits mitten drin. Ein Entkommen aus der Lawine ist aufgrund der hohen Geschwindigkeiten fast ausgeschlossen. James-Bond-mäßig (wie „Im Geheimdienst Ihrer Majestät“) einer Lawine davonzufahren ist aufgrund deren hoher Geschwindigkeit nur in Ausnahmefällen möglich. Nämlich dann, wenn man sie nicht selbst ausgelöst hat und sich seitlich aus der Falllinie retten kann.
Lawinen gilt, was auch für eine einzelne Schneeflocke gilt: Die Bedingungen, unter denen sie entstehen, sind gut bekannt, ihre tatsächliche Erscheinungsform lässt sich dennoch nicht vorhersagen.