Liebe Frau Rützler, auf Ihrer Website beschreiben Sie sich als “Pionierin der Ernährungswissenschaft”, die Zukunftsentwicklungen in der Ernährung – von evolutionären, gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Trends – reflektiert betrachtet. Dabei fällt häufig das Wort “Future Food”. Wie würden Sie das Thema für eine unbedarfte Person umschreiben?
Ein guter Einstieg wäre, zu erklären, warum ich die englische Sprache wähle. Mit dem Begriff “Food” beschreibt das Englische mehr als nur Essen und Ernährung. Er meint auch Speisen, Esskultur, Mahlzeiten und deren Gestaltung, Kochen und vielleicht auch Gastrosophie. Er beinhaltet ein sehr breites Verständnis für den gesamten Themenbereich. Auf Deutsch bräuchte ich dafür einen Dreizeiler.
Zum Begriff „Future“ muss ich etwas ausholen. Ich darf mich deshalb als eine Pionierin der Ernährungswissenschaften beschreiben, weil ich mir damals bei meinem Studium in Wien an 5 Universitäten und unzähligen Instituten alles zusammen gesucht habe, was es zum Thema Essen und Trinken gab. Da ist mir bewusst geworden, dass die meisten nur mit einem Fachblick auf das Thema schauen und vieles ausblenden. Ich hab mich dann sehr lange mit Esskultur auseinandergesetzt und bin schließlich gefragt worden, ob ich eine Studie zur Zukunft des Essens schreiben will. Meine Antwort war zunächst: Ich habe so viel damit zu tun, das Hier und Jetzt zu analysieren und zu verstehen – wie soll ich da über die Zukunft schreiben? Aber mein Gegenüber erwiderte: Du wirst das Hier und Jetzt erst verstehen, wenn du dich mit der Zukunft auseinandersetzt. Das hat mir gefallen, und heute bin ich überzeugt davon, dass das stimmt.
In der breiten Öffentlichkeit haben Sie vor allem durch die Verkostung des “In-Vitro-Burgers” Bekanntheit erlang. “Cultured Meat” ist jedoch nur eine von vielen Entwicklungen, in denen versucht wird, mithilfe von naturwissenschaftlicher Forschung Alternativen zur konventionellen Nahrungsmittelproduktion zu bieten. Was halten Sie von dieser Entwicklung im Allgemeinen?
Begonnen hat diese Entwicklung schon sehr früh. Seit der Aufklärung haben die Naturwissenschaften eine enorme Bedeutungsmacht gewonnen, auch im Hinblick auf gesunde Ernährung und Lebensmittelsicherheit. Mit der Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion hat diese Entwicklung einen weiteren Schub bekommen. Und Gentechnik und Stammzellenforschung haben sie in den letzten Jahren weiter dynamisiert. Cultured Meat ist ein Ergebnis dieser Entwicklung. Dahinter steckt eine Technologie, die im deutschsprachigen Kulturraum auf sehr viel Kritik gestoßen ist – was mich nicht verwundert hat, zumal deutsche und österreichische Konsumenten sehr technologiekritisch sind. Da habe ich fast nur negative Einschätzung bekommen, und eigentlich hat es – als ernsthafte Alternative zur traditionellen Fleischproduktion – hier kaum jemanden interessiert.
Sprechen sie dabei nur vom deutschsprachigen Raum? Wie sieht es mit anderen Kulturen aus?
Speziell in Asien gab sehr wohl auch interessierte und offene Ohren. Ich halte die generelle Skepsis gegenüber Cultured Meat vor allem für ein Kulturphänomen.
Sie meinen also, dass eine Öffnung der Menschen gegenüber diesen Themen kulturabhängig ist. Inwiefern glauben Sie, dass allein die Auseinandersetzung damit trotzdem relevant für die Zukunft der Ernährung ist?
Ich halte das sogar für sehr relevant. Das war eigentlich auch meine Kernmotivation für die Verkostung – abgesehen von der Neugier, wie es schmeckt. Der Umstand, dass wir uns mit Alternativen einfach auseinandersetzen müssen, hat mich angetrieben. Die Zukunft entwickelt sich nicht linear. Das industrielle Paradigma “mehr und billiger” hat uns Wohlstand gebracht, das ist wertvoll und will ich auch nicht abwerten. Inzwischen sehen wir aber auch die zahlreichen Kollateralschäden, die mit dieser Produktionsform einhergehen – die endlichen Ressourcen, Umweltprobleme, Energieprobleme. Wir brauchen einen breiteren Blick auf Lösungen. Deswegen wollte ich die Diskussion anschieben. Ob das gelungen ist? Ein bisschen, würde ich sagen.
Cultured Meat ist aber nur eine von vielen Möglichkeiten, den angesprochenen Paradigmenwechsel anzutreiben. Soylent – ebenfalls bereits auf unserem Blog angesprochen – ist eine andere. Ein Ernähungsgetränk, welches die Idee verfolgt, den gesamten täglichen Nährstoffbedarf eines erwachsenen Menschen abzudecken und somit als alleiniges Nahrungsmittel zu dienen. Wann ist es Ihnen erstmals begegnet und was ist Ihnen damals durch den Kopf gegangen?
“Die Fantasie, dass man das Essen freiwillig an die Pharmazie auslagert, also nur mehr Pillen oder Tinkturen zu sich nimmt, ist für mich eine Horrorfantasie.” – Hanni Rützler
Ich kenne es schon seit den Anfängen. Mich hat es an unsere Zukunftsfantasien aus den 60er Jahren erinnert, als wir von Astronautenfutter geträumt haben. Damals wurde viel Hoffnung in technologische Lösungen gesetzt. Man dachte, dass man Pillen schlucken kann und sich nicht mehr ums Essen kümmern muss. Inzwischen wissen wir im Großen und Ganzen was der Mensch braucht, um (über)leben zu können. Momentan versuchen Forscher noch gesundheitsfördernde Stoffe zu finden, aber der Bedarf ist wissenschaftlich weitgehend geklärt. Die Fantasie, dass man das Essen freiwillig an die Pharmazie auslagert, also nur mehr Pillen oder Tinkturen zu sich nimmt, ist für mich eine Horrorfantasie. Wir essen ja nicht nur, um unseren physiologischen Bedarf zu decken, sondern auch weil wir Lebensmittel schmecken und genießen wollen, weil wir Freude an der Zubereitung und am gemeinsamen lustvollen Verzehr haben. Speisen sind ja auch ein Kulturgut. Ich kann zwar nachvollziehen, dass es manchmal im Arbeitsstress attraktiv ist, nur an einem Drink zu nuckeln und sich nicht ums Essen kümmern zu müssen, aber auch Asterix und Obelix haben den Zaubertrank bloß gezielt eingesetzt und sich sonst am gebratenen Wildschwein erfreut.
Rob Rhinehart, der Erfinder des Zaubertranks, ist – wie sie richtig erkannt haben – ein Software-Entwickler, der den ganzen Tag vor dem Computer verbringt. In Interviews erzählt er gerne folgende Anekdote: “Ich war vielleicht 6 oder 7 Jahre alt und meine Mutter servierte Salat. Ich schaue auf den Teller und sehe diese Blätter. Dann schaue ich aus dem Fenster, und sehe – auf den Bäumen – auch solche Blätter, und das wirkte irgendwie komisch. Es wirkte fast ein bisschen primitiv – wie etwas, was ein Tier tun würde. Ich saß da, vor mir dieser schöne Teller, in diesem schönen Haus und esse etwas, was auf Bäumen wächst. Ich dachte: das geht doch besser!” Was sagen Sie dazu?
Ich bin immer wieder fasziniert von der Fantasie junger Kinder – aber der Schluss ist doch etwas eigenartig. Wir leben in Städten, sind eigentlich weit entfernt von dem Baum vor dem Fenster. Wahrscheinlich hat ihm der Salat einfach nicht geschmeckt. Im Prinzip ist doch in städtischen Lebenswelten die Sehnsucht nach Natur eine der wertvollsten und stärksten. Ich glaube, er unterschätzt die Kraft dieser Sehnsucht. Aber die Computerwelt – vor allem als Programmierer – ist eben eine eigene Mikrokultur. Ich verstehe, dass hier Bedarf an alternativen Esslösungen besteht. Mit Salat wird man ihn wohl nicht begeistern können.
Im 2. Teil des Gesprächs spricht Hanni Rützler morgen über Lieferservices via Drohnen im Silicon Valley, das Marketingprodukt Soylent und Insekten als Nahrungsmittel. Bon appétit!
Das Beitragsbild stammt von David Parry / PA Wire, zeigt einen Burger aus Cultured Beef und kommt von der Website http://culturedbeef.net/resources/