Was wissen wir über unsere Lebensmittelversorgung? Haben wir uns von der Natur entfremdet? Wie viel Potenzial steckt in einem regionalen Ökosystem und was kann Selbstversorgung für Städte bedeuten? Soziologiestudierende der Universität Innsbruck erarbeiten derzeit ein Konzept, das die städtische Bevölkerung mit der Natur wiederverbinden möchte. Innsbruck soll unter der Berücksichtigung regionaler Landwirtschaft „essbarer“ gemacht werden. Das Zauberwort lautet: Relokalisierung.
Autarkie bleibt Utopie?
Um eines gleich vorwegzunehmen: Völlig autarke, in der Bedeutung von sich selbst ernährende, Städte bleiben vorerst Utopie. „Die Frage einer Selbstversorgung der Stadt ist immer eine sehr kritische Geschichte“, erklärt Dr. Markus Schermer, Soziologe und Projektleiter des Forschungspraktikums „Innsbruck – Essbare Stadt?“. „Eine Stadt wird sich innerhalb ihrer Stadtgrenzen wahrscheinlich nie selbst versorgen können, es ist immer eine Stadt-Umland-Beziehung notwendig.
Dem Umstand, dass die Lebensmittelversorgung der heute in den Städten lebenden Massen eine Planungssache ist, wurde vor 100 Jahren mit dem Bau der ersten Markthallen noch Rechnung getragen. Mittlerweile werde das vollkommen vernachlässigt, kritisiert Schermer. „Heute kommt das Essen aus dem Supermarkt, man denkt aber nicht darüber nach, wie es dort hineinkommt.“
Das Essen kommt aus dem Supermarkt
Führen wir uns kurz vor Augen, was wir in konventionellen Supermärkten vorfinden. Wir kriegen fast alles, was wir wollen, und das, wann wir es wollen. Dafür reisen viele Lebensmittel – als Rohprodukt oder verarbeitet – schon einmal um die halbe Welt. Produktion und Herkunft lassen sich oft schwer identifizieren. Was wir nicht konsumieren, landet im Müll. Abholzung zur Generierung von Anbauflächen, Lebensmittelskandale, steigende Nahrungsmittelpreise – die Liste prominenter Probleme im Zusammenhang mit der globalen Lebensmittelversorgung ist lang.
Die Macht der KonsumentInnen
Gleichzeitig wächst ein neues Qualitätsbewusstsein heran – die KonsumentInnen wollen wissen, was sie essen. Und auf Basis dieses Wissens wird auf manches verzichtet. „Es steigt das Bedürfnis der Menschen, sich mit Naturprozessen auseinanderzusetzen, je weiter sie sich davon entfernen“, sagt Schermer. Dennoch weist der Soziologe darauf hin, dass Gemeinschaftsgärten ihre zentrale Funktion nicht unbedingt als produktionsorientierte Modelle haben, die unser Lebensmittelsystem nachhaltiger gestalten, sondern eher als soziale Experimente, bei denen neue Lebensformen erprobt werden.
Für den nötigen Strukturwandel gilt es nicht nur, die Art und Technologie der Lebensmittelproduktion zu verändern, sondern eben auch die besagten Stadt-Umland-Beziehungen neu zu konfigurieren. Um eine Stadt also „essbar“ zu machen, braucht es neue Formen der Kooperation und der Verwaltung zwischen Stadt und Umlandgemeinden und eine Herangehensweise der Raumplanung, die Stadtgrenzen nicht mehr als absolut sehen darf, argumentiert Schermer.
Support your local Farmer?
„Sowohl in der Produktion als auch im Konsum müssen wir anfangen umzudenken. Unser System hat dazu geführt, dass Bauern und Bäuerinnen auf große Strukturen hinarbeiten und unmittelbare, regionale Vermarktungsprozesse total vernachlässigen“, so dieser. In Tirol seien beispielsweise in den letzten 30 Jahren Sennereien zum großen Teil verschwunden.
An ihrer Stelle gibt es einige wenige Großmolkereien, die sich vor allem auf den Export konzentrieren. „Die Versorgung mit Märkten ist schon gegeben, aber es besteht eben auch in den konventionellen Supermärkten, die alle mit Regionalität werben, Nachholbedarf“, fügt Schermer hinzu.
Pilotstadt Andernach
Wer sich ein Bild machen möchte, wie die gelungene Umsetzung einer „essbaren Stadt“ aussehen kann, sollte sich das deutsche Andernach genauer ansehen. Im 30.000 Seelen-Städtchen wurden quer durch das Stadtbild Grünflächen mit Nutzpflanzen kultiviert. Anstatt „Betreten verboten!“ heißt es jetzt dort „Pflücken erlaubt!“. Die Vorteile liegen auf der Hand: Biodiversität, Bewusstseinsbildung im Umgang mit der Natur, Aktivierung der BürgerInnen, Integration von Langzeitarbeitslosen und eine stadtklimatische Aufwertung. Ähnliches kann sich Schermer auch für Innsbruck vorstellen.
In Innsbruck sind die Soziologie-Studierenden unter der Leitung ihres Professors Schermer eifrig daran, Konzepte zu entwerfen. Diese reichen vom Einbinden der Zivilgesellschaft bei Kapazitätsengpässen regionaler Lebensmittelproduzenten, über Apps und Maps bis hin zu Ernährungs-Buddies. Letztere sollen die Routinen der KonsumentInnen beim Einkaufen, die oft einer regionalen Sichtweise im Wege stehen, hinterfragen.
Eine eigene Projektgruppe beschäftigte sich mit der Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, spezialisierte Ernährungsräte einzurichten. Solche Gremien könnten die verschiedenen Interessensvertretungen an einen Tisch bringen und die Politik in Sachen lokalisierter Ernährung beraten. Ein weiterer wichtiger Player, so Schermer, sei die Gastronomie: „In einer Tourismusgegend wie Innsbruck ist die Hotellerie ein interessanter potenzieller Partner und Großküchen wichtige Absatzkanäle, da die Außerhausverpflegung stetig steigt.“
Ob und zu welchem Grad Innsbruck tatsächlich in eine „essbare Stadt“ verwandelt werden kann, steht noch offen. Viele Ideen liegen auf dem Tisch, im Oktober gilt es diese gemeinsam mit institutionellen Beteiligten aufzuarbeiten. Wirtschafts- und Landwirtschaftskammer hätten an dem Projekt bereits Interesse gezeigt, so Schermer. „Ob das Projekt Impulse setzen wird können, wird man sehen“, gibt sich Schermer zurückhaltend.
Es sei trotzdem bereits ein gelungenes soziales Experiment gewesen. „Die Studierenden sind alle mit einem unglaublichen Eifer dabei gewesen, vielleicht aus der Erfahrung heraus, in gewisser Weise ihre Lebenswelt verändert zu haben. Wenn die Studierenden mir erzählen, dass sie jetzt anders einkaufen gehen und Produkte bewerten, dann ist das für mich das größte Lob oder Feedback“, zieht Schermer Bilanz.
Autor: Noel Kriznik