Sich Gehör verschaffen, Interviews geben, einen passenden Online-Auftritt haben – Autor*innen müssen heutzutage viel mehr als „nur“ Bücher schreiben: Um literarischen (kommerziellen) Erfolg zu haben, wird es wichtiger, die eigene Person in den Mittelpunkt zu rücken.
Doch das war nicht immer so. In der griechischen Literatur der Antike (8./7. Jhd. v. Chr. bis 6. Jhd. n. Chr.) wurden Texte häufig anonym verfasst. Der Altphilologe Markus Hafner sagt dazu: „Es gab eine größere gesellschaftliche und literarische ‚Anonymitäts-Toleranz‘“. Als konkretes Beispiel nennt er die Texte des Dichters Homer: Diese zirkulierten jahrhundertelang anonym, bevor man sie erstmals mit dem Namen ‚Homer‘ versah. Schließlich gab es damals noch kein Copyright, wie wir es heute kennen, daher konnten Autor*innennamen auch viel schneller wechseln oder ganz verschwinden.
Mündliche Tradition
Entscheidend ist auch, dass Literatur in erster Linie mündlich überliefert wurde: „Gerade in der mündlichen Kultur der griechischen Archaik kursierten populäre Texte und Gedichte – etwa Trinklieder oder Sinnsprüche – von Hand zu Hand oder eher von Mund zu Mund.“ Texte dieser Art sind ein Beispiel für kollektive Autor*innenschaft, sie wurden zum Eigentum aller Personen, die sie verwendeten. Urheberschaft konnte leicht gefälscht werden und das Spiel mit der Anonymität war durchaus eine kulturelle Praxis. In der griechischen Antike wimmelte es, so Hafner, auch von „bewusst gefälschten Autor*innen-Zuschreibungen“.
Schriftlichkeit und Buchdruck
Literatur wurde sehr lange primär mündlich überliefert, doch die Etablierung der Schriftlichkeit hatte enorme Auswirkungen auf das Konzept des Autors/der Autorin: „Sobald es im 8. Jh. v. Chr. griechische Schrift gab, konnten Gegenstände mit Urhebernamen signiert und somit ‚autorisiert‘ werden. Und mit den frühesten Buchtiteln trat ab dem 6. Jh. auch ein Autorname am Werkbeginn auf“, so der Grazer Altphilologe.
Um 1440 erfand Johannes Gutenberg dann den modernen Buchdruck mit einzelnen Lettern – eine der bedeutendsten Erfindungen der Menschheitsgeschichte und eine Neuerung, die ebenso maßgeblich für das Konzept der Autor*innenschaft wurde. In der Neuzeit hatte besonders der Staat ein wachsendes Interesse daran, die Urheber*innen von Texten ausfindig zu machen, da Autor*innen von nun an rechtlich und moralisch verantwortlich – und somit haftbar! – für ihre Texte gemacht werden konnten. Daher wurden – vor allem in absolutistischen Staaten – oft Pseudonyme genutzt. So sollten eventuell brisante Texte nicht mit einer bestimmten Person in Verbindung gebracht werden. Zudem wählten gerade Autorinnen lange Zeit über männliche Pseudonyme, um in der patriarchalen (Literatur)Welt zu bestehen.
Sachtexte vs. Literatur
Heute ist ein Großteil der Buchveröffentlichungen mit dem Namen eines Autors/einer Autorin bedruckt, anonyme Autor*innenschaft ist in der Literatur äußerst selten. Laut Markus Hafner wollen wir als heutige Leser*innen wissen, wer ein literarisches Werk verfasst hat, womöglich, um eine direkte Beziehung zu dieser Person herzustellen. Das Spiel mit Pseudonymen hat abgenommen, ebenso unsere Toleranz für Anonymität. Dennoch spielen anonyme Texte auch in der Gegenwart weiterhin eine Rolle: Populäre Trink- oder Wanderlieder, Anekdoten, Sprüche, Witze oder Memes, Chatrooms des frühen Internets oder auch Wikipedia sind Beispiele dafür.
Entscheidend ist laut Markus Hafner die Textgattung: „Dokumentarische Texte wie Wikis repräsentieren offenbar eine Art über-subjektives ‚Weltwissen‘, das keinen Autor/keine Autorin nötig hat.“ Bei Gebrauchs- und Sachtexten spielt Autor*innenschaft somit meist eine untergeordnete Rolle, bei literarischen Werken sieht das anders aus: „Ich glaube, dass der künstlerisch tätige Mensch danach strebt, sein Werk mit Namen zu signieren und über ein bestimmtes Medium zu verewigen.“
Anonyme KI-Literatur
Eine sehr aktuelle Frage ist, wie sich Autor*innenschaft durch neue Technologien – wie Künstliche Intelligenz (KI) – verändern wird. Wird es künftig wieder üblich sein, anonyme Texte zu lesen? Markus Hafner sieht uns hier am Anfang einer Entwicklung, die viele Fragen aufwirft:„Werden Autor*innenschaft und Künstler*innentum zu bloßer technischer Beherrschung? Wandeln sich künstlerisch inspirierte Autor*innen zu Programmierer*innen? Wird Inspiration vollends in die Technik hineinverlagert? Verliert oder gewinnt menschliche Autor*innenschaft damit an Wert oder ist KI gar die neue Muse?“
Auf diese Fragen kann noch niemand konkrete Antworten geben. Der Altphilologe Markus Hafner, der sich aktuell im Rahmen eines EU-Forschungsprojekts (ERC Starting Grant 2024-28) mit dem Konzept der Autor*innenschaft in der griechischen Antike befasst, weiß zwar nicht, ob uns bald eine kollektiv verfasste, anonyme KI-Literatur erwartet, doch er ist sich sicher: „Mediengeschichtliche Vormodelle dafür bietet bereits die griechische Antike.“