Verfassungsrechtler Manfried Welan, em. Universitätsprofessor an der Universität Wien und ehemaliger Politiker, hat zwei der Standardwerke über das Amt des Bundespräsidenten verfasst (Der Bundespräsident. Kein Kaiser in der Republik. Böhlau Verlag, 1992 und Das österreichische Staatsoberhaupt, Verlag für Geschichte und Politik, 1997). Er räumt mit einigen der im Wahlkampf kursierenden Gerüchte zu den Kompetenzen des Bundespräsidenten auf und warnt vor der Sehnsucht nach einfachen Antworten.
Der Bundespräsident (es wird wieder ein Mann werden) kann die Regierung entlassen. Welche Konsequenzen hätte das? Wer würde dann regieren?
Manfried Welan: Der Bundespräsident ist verpflichtet, eine einstweilige Regierung zu ernennen. Er kann auch gleich eine neue ernennen.
Erklären Sie uns noch ein Mal vor der Wahl am kommenden Sonntag: Kann der österreichische Bundespräsident den Nationalrat aus beliebigem Grund auflösen?
Ja, aber nur auf Vorschlag der Bundesregierung und aus dem gleichen Anlass nur ein Mal.
1930 ist das auch schon einmal geschehen und das war das erste und bisher letzte Mal. Denn das Ziel, das man damit erreichen wollte – nämlich eine Parlamentsmehrheit für die Regierung zu bekommen – wurde nicht erreicht. Seitdem hat es keine Auslösung des Nationalrats durch den Bundespräsidenten mehr gegeben.
Welche Aufgabe kommt dem Bundespräsidenten in der Gesetzgebung zu?
Er beurkundet durch seine Unterschrift das verfassungsmäßige Zustandekommen der Gesetze. Nun gibt es zwei Meinungen, wie das zu verstehen ist:
Eine Auslegung lautet, dass er hier nur prüft, ob bei der Abstimmung über ein Gesetz alle formalen Voraussetzungen eingehalten wurden.
Der anderen Interpretation zufolge muss der Bundespräsident hier auch inhaltlich prüfen, ob ein Gesetz verfassungsmäßig ist oder nicht – also ob es etwa die Grundgesetze verletzt.
Gilt das beispielsweise auch für TTIP?
Nein, TTIP ist ein Staatsvertrag. Wenn wir Staatsvertrag hören, denken wir nur an den einen aus dem Jahr 1955. Aber es wurden im Laufe der Jahre zwischen 4000 und 5000 Staatsverträge abgeschlossen. Der Bundespräsident ist nicht verpflichtet, einen Staatsvertrag zu unterschreiben.
Wen kontrolliert der Bundespräsident eigentlich und wer kontrolliert ihn? Ist der Bundespräsident eine demokratisch notwendige Kontrollinstanz?
Er kontrolliert die Regierung und die Regierung kontrolliert ihn. Wie? Der Bundespräsident arbeitet in allen seinen Akten auf Vorschlag der Regierung: Nur so bestellt er Beamte, Richter usw., auch die Begnadigungen, die der Bundespräsident letztlich unterschreibt, kommen aus dem Justizministerium zu ihm.
Indem die Regierung ihm einfach nur die Vorschläge gibt, die sie ihm geben möchte, kontrolliert sie ihn. Daher ist auch die Bezeichnung unselbständiges Staatsoberhaupt treffend.
In einer freien Gesellschaft kontrolliert erstens die freie Presse, die unabhängigen Medien, zweitens die Opposition im Parlament und drittens die rechtsstaatlichen Kontrollinstanzen wie der Verwaltungsgerichtshof, der Verfassungsgerichtshof und der Rechnungshof. Politisch kontrolliert vor allem das Wahlvolk – also alle, die ein Wahlrecht haben und davon auch Gebrauch machen.
Sie haben die Funktion des Bundespräsidenten als Superperson und als schlafenden Riesen bezeichnet (Der Falter, 20. 4. 2016), der, wenn er aufwacht, bemerkt, dass er gefesselt ist. Sie haben aber auch die Befürchtung geäußert, dass er die Fesseln sprengen könnte. Wo liegen die Fesseln und wie gut sitzen sie?
Durch Ernennung und Entlassung ist er stark, aber bisher gab es keine Entlassungen. Um seine starken Möglichkeiten einzusetzen, müsste er die bisherige Amtsauffassung verleugnen.
Hatten die „Väter der Verfassung“ einen aktiven oder eher einen zurückhaltenden Bundespräsidenten im Kopf, als sie dieses Amt geschaffen haben?
Das Amt wurde sukzessive geschaffen. Die Schöpfer der Verfassung, also die Großparteien hatten unterschiedliche Vorstellungen. Die Sozialdemokratie wollte nichts, was an den Kaiser erinnert, und war gegen einen Bundespräsidenten. Vor allem die christlich-soziale Partei wollte aber einen Bundespräsidenten, daher wurde in der Verfassung von 1920 ein Kompromiss, ein Bundespräsident, mit jedoch schwachen Kompetenzen, beschlossen.
Das Amt hat sich in den 1920er-Jahren unter Druck der rechten Parteien sukzessive zu einem stärkeren entwickelt. Unter diesem Druck haben auch die Sozialdemokraten nachgegeben und daher 1929 die Verfassung geändert.
Das Amt des Bundespräsidenten in der Fassung von 1929 ist aber kein Kompromiss, sondern voller Widersprüche und unvollkommen. Parlamentarisch gesehen ist es zurückhaltend, präsidial gesehen ist es autoritär.
Die „Väter“ wollten also nicht alle dasselbe: Die Rechten wollten einen autoritären, die Linken wollten gar keinen. 1945 wurde die Fassung von 1929 übernommen und gilt bis heute.
Und was haben wir de facto?
Jedenfalls haben die Präsidenten bisher nie ganz ausgenützt, was ihnen die Verfassung ermöglicht hätte. Aber die Gesellschaft, die Öffentlichkeit und die Bevölkerung haben sich verändert, daher wird der Bundespräsident in Zukunft als Great Communicator herausgefordert werden.
Vergleicht man den Kanzler mit dem Bundespräsidenten, so kann man sagen, der Kanzler ist der, der die Initiative und die Innovationen durchführt und leitet, während der Bundespräsident der Mahner, Ausgleicher, Mittler und Wächter ist. Das haben die Bundespräsidenten der Vergangenheit im Großen und Ganzen auch so gehandhabt.
Ist es eine österreichische Eigenart, dass Formalverfassung und Realverfassung in manchen Punkten so weit auseinandergehen wie auch beim Amtsverständnis des Bundespräsidenten?
Es ist einfach eine Eigenart des Rechts, dass der Wortlaut von Vorschriften von der Praxis dieser Vorschriften in mancher Hinsicht abweicht. So ist es auch bei der Verfassung. Die sogenannte Rechtsverfassung wird durch Praxis und durch Gewohnheiten ergänzt. Zu dieser Eigenheit gehört auch, dass die Bundespräsidenten bisher von ihren Zuständigkeiten nicht so Gebrauch genommen haben, wie sie es könnten.
Eine Verfassung ist ein Text. Jeder Text hat aber auch einen Kontext. Jedes Amt gleicht einer Rolle im Theater. Diese Werden unterschiedlich wahrgenommen und gespielt, so ist es auch mit den Ämtern. Die Ämter, die die Verfassung anbietet, sind sehr unterschiedlich. De facto sind wohl weder der Bundekanzler noch der Bundespräsident sehr mächtig in ihren jeweiligen Bereichen. In seinem Bereich ist der Bürgermeister, und besonders der Bürgermeister Wiens, der mächtigste Politiker.
Ich halte es aber grundsätzlich für eine Illusion, von einer Einzelperson zu erwarten, die für Entwicklung nötige Dynamik und die nötigen Diskussionen einzubringen. Das kann eine Person nicht liefern, das kann nur ein Parlament, das können nur die Menschen selbst.
Der Kampf ums Recht kann niemandem abgenommen werden! Die Schwierigkeit liegt darin, dass es in Österreich kein Institutionenbewusstsein gibt. Das bedeutet, zu verstehen, wie eine Verfassung entsteht, dass sie durch einen politischen Prozess zwischen den Parteien zustandekommt. Es bedeutet beispielsweise auch, zu wissen, wie mächtig der Verfassungsgerichtshof ist.
Ist das neu?
Nein, das war immer so. Man will keine Widersprüche, viele Menschen erwarten einfache Antworten, wollen eine Figur mit klaren Lösungen und einer klaren Ansage, wo’s langgeht. Deswegen hängt ja ein Bild vom Bundespräsident in den Klassenzimmern. Aber es braucht Diskussion. Einfache Antworten und Harmonie gibt es nur in der Diktatur.
Interview: Irina Zelewitz