Achtsamkeit ist in den letzten Jahren zum Trend geworden. 15.600.000 Ergebnisse findet Google bei der Suche mit dem Begriffs und auch zahlreiche Ratgeber sind Zeugnis dieser Entwicklung. Grundsätzlich wird darunter die Fähigkeit, die eigene Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu lenken und allen daraus folgenden Eindrücken, Gefühlen und Gedanken offen zu begegnen, verstanden.
Ulrich Tran hat mit seinem Team – Layla Birnbaum, Matthias Burzler, Ulrich Hegewisch, Dariga Ramazanova und Martin Voracek – in einer aktuellen Studie nachweisen können, dass Achtsamkeit positive Wirkungen in der Psychotherapie haben kann; und zwar selbst dann, wenn Achtsamkeit gar nicht ein Ziel der Behandlung darstellt oder geübt wird. Tran erklärt, dass unter dem Begriff Achtsamkeit in der Psychotherapie eine Vielzahl an unterschiedlichen Techniken und Zugängen verstanden wird: „Jon Kabat-Zinn hat schon Ende der 1970er-Jahre die erste ‚moderne‘ Achtsamkeitsintervention vorgestellt: die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (mindfulness-based stress reduction; MBSR).“ Die Übungen, die den Teilnehmer*innen dabei beigebracht werden, reichen von Yogastellungen (asanas), Meditationen im Gehen bzw. Sitzen und bis hin zu achtsamen Körperwahrnehmungen (body scan). Das Ziel besteht darin, Achtsamkeit auch bei alltäglichen Verrichtungen zu erlernen, die eigene Aufmerksamkeit auf den Moment zu richten und nicht zu werten, so Tran.
Achtsamkeit in der Psychotherapie
„Viele andere achtsamkeitsbasierte Interventionen im Bereich der Psychotherapie haben Elemente des MBSR übernommen oder bauen darauf auf. Ebenso wurden Elemente aus diesen Behandlungen z. B. in die kognitive Verhaltenstherapie integriert (mindfulness-based cognitive therapy). Andere Behandlungen wiederum rücken weniger die meditativen Aspekte selbst in den Vordergrund, sondern die Ziele, die damit erreicht werden sollen: Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt, die akzeptierende Haltung“, erklärt Tran.
Dass dies durchaus erfolgreich sein kann, haben Ulrich Tran und sein Team nun in einer Übersichtsstudie herausgefunden. Sie konnten zeigen, dass die Steigerung von Achtsamkeit positive Auswirkungen auf psychotherapeutische Behandlungen haben kann. Dafür hat das Team 146 Studien mit insgesamt 11.000 Teilnehmer*innen zusammengefasst. Diese wurden in diesen Studien zufällig einer achtsamkeitsbasierten Behandlung oder einer Vergleichsgruppe zugewiesen. In der Vergleichsgruppe wurden entweder eine andere psychotherapeutische Behandlung oder eine nicht-psychotherapeutische Betreuung angewandt oder ein Wartelisten-Platz vergeben. In allen Studien wurden die psychische Gesundheit und die Fähigkeit zu Achtsamkeit der Teilnehmer*innen vor und nach der Behandlung erfasst. Für die Analyse der Ergebnisse haben Ulrich Tran und sein Team erstmalig eine neuartige statistische Methode angewandt, die es ermöglichte, alle verschiedenen Behandlungen und Vergleichsgruppen in diesen Studien systematisch miteinander zu vergleichen. In allen Behandlungen zeigten sich gleichartige Zusammenhänge zwischen der Steigerung von Achtsamkeit und der Verbesserung der psychischen Gesundheit, unabhängig davon, ob sie achtsamkeitsbasiert waren oder nicht. Die Studie ist in der renommierten Fachzeitschrift Psychological Bulletin erschienen.
Kritik an Kommerzialisierung
Für den aktuellen Hype um Achtsamkeit hat Ulrich Tran ebenso Thesen: Einerseits habe Achtsamkeit einen Nerv getroffen, da wir in einer beschleunigten Welt leben, andererseits sei das Konzept kommerzialisiert worden: „Es ist eine ganze Industrie um Achtsamkeit entstanden, wie ja beispielsweise im Westen auch um Yoga (das auch als eine meditative Praxis verstanden und ausgeübt werden kann). Und es wird viel Geld damit gemacht. Das sehe ich schon als eine Schattenseite dieser Entwicklung.“
Neben dieser Kommerzialisierung wird von manchen die wissenschaftlich-konzeptionelle Unschärfe kritisiert. Andere wiederum sehen in Achtsamkeit einen Wellness-Trend bzw. einen weiteren Faktor der Selbstoptimierung. Ulrich Tran erinnert daran, dass in diesem Bereich auf wissenschaftlicher Ebene noch viel zu tun sei. Er selbst setze sich in seiner eigenen Forschung viel mit dem psychologischen Konstrukt der Achtsamkeit auseinander und konnte bereits feststellen, dass es große Überschneidungen mit anderen bereits gut etablierten Konstrukten – wie etwa Neurotizismus (Fähigkeit zur Emotionskontrolle) – gibt. Die Unschärfen müssten jedoch stärker herausgearbeitet werden. Zudem gebe es auch auf der Ebene der (psychotherapeutischen) Interventionen Unschärfen. Tran betont jedoch, dass das Ergebnis ihrer Metastudie zeigt, dass sich unterschiedliche Interventionen „gar nicht so sehr voneinander unterscheiden, was den Zusammenhang ihrer Effekte auf die psychische Gesundheit mit Achtsamkeit als Eigenschaft angeht.“ Vielleicht sei Achtsamkeit daher ein Bindeglied für die Wirkungen unterschiedlicher Methoden, so Tran.
Weiters erinnert der Forscher, dass einige Forscher*innen einem gewissen Purismus anhängen und sich von bestimmten Behandlungsmethoden bzw. -zugängen größere Wirkungen erhoffen. Zu guter Letzt betont Tran, dass Interventionsforschung zeit- und kostenintensiv sei und an der Forschungspraxis vieles zu verbessern sei; so benötige es etwa mehr Vorregistrierung von Studien. Daten sollten frei zugänglich gemacht werden, um Ergebnisse überprüfbar zu machen. Mehr Transparenz in der Publikation von Forschungsergebnissen (Stichwort: Open Science) sei von Bedeutung.