ADHS steht für Aufmerksamkeitdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, erklärt Martin Fuchs, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin an der Universität Innsbruck. Menschen mit ADHS weisen häufig Probleme in drei Bereichen auf: Erstens haben sie Schwierigkeiten, aufmerksam und konzentriert zu sein (v. a. bei Tätigkeiten, die als langweilig empfunden werden). „Betroffenen fehlt oft ‚der rote Faden‘ und sie neigen zu Tagträumen“, so Fuchs. Zweitens kann es zu einer motorischen Überaktivität kommen: „Betroffene wirken hibbelig und zappelig, können schlecht stillsitzen und sind ‚immer auf Achse‘“ Teilweise geht damit ein erhöhtes Risiko für selbstverletzendes Verhalten einher. Drittens haben sie Probleme mit impulsivem Verhalten: „Sie neigen zu ‚Bauchentscheidungen‘ und unüberlegten und hektischen Schnellschüssen, platzen mit Antworten heraus oder setzen Handlungen – ohne sich vorher mögliche Konsequenzen zu überlegen.“
Spektrumserkrankung
ADHS ist genetisch bedingt, psychosoziale Umstände können die Krankheit wesentlich mitformen. Zudem wird ADHS oft von einem Elternteil vererbt und auch Personen, die in einem chaotischen Umfeld mit wenig Strukturen aufwuchsen, haben ein erhöhtes ADHS-Risiko. Dennoch ist ADHS eine Spektrumserkrankung: Manche Menschen mit ADHS sind also stärker von den Symptomen der Krankheit betroffen als andere. Zudem muss ADHS nicht immer mit Hyperaktivität einhergehen, dann spricht man auch nur von ADS. Wichtig ist es für Betroffene, eine Perspektive zu entwickeln: „Das ‚Zappelphillip-Kind‘ hat andere Bedürfnisse wie der ADHS-betroffene Jugendliche oder der Erwachsene.“
Längere Beobachtung
Die Diagnose erfolgt zunächst über eine Beobachtung des Verhaltens über einen längeren Zeitraum und in verschiedenen Situationen hinweg. Zusätzlich werden auch Angehörige der Person befragt. „Parallel dazu gibt es computergestützte Aufmerksamkeits-Tests, die bei der Diagnose helfen, ein klareres Bild zu bekommen. Leitlinien empfehlen im Kindesalter, die potenziell Betroffenen auch körperlich abzuklären.“ Bei Kindern stellt ein Facharzt/eine Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie die Diagnose – manchmal auch im Austausch mit weiteren Expert*innen aus den Bereichen Klinische Psychologie, Ergotherapie und Pädagogik. „Bei Erwachsenen ist die Thematik relativ neu. Zur ersten Orientierung empfehlen sich sog. Screening-Fragebögen, mittlerweile gibt es auch einige ‚Erwachsenen-Psychiater*innen‘, die sich auf ADHS spezialisiert haben“, erklärt Martin Fuchs.
ADHS bei Erwachsenen
Weltweit sind 4 bis 6 Prozent aller Kinder und Jugendlichen von ADHS betroffen, in Österreich sind es – einer großen epidemiologischen Studie zufolge – ebenso ca. 4 Prozent. Bei ungefähr 45 Prozent dieser Menschen zeigen sich die Symptome von ADHS auch im Erwachsenenalter. Der Weg zur Diagnose kann jedoch ein langer sein: „Betroffene Erwachsene fühlen sich oft erschöpft und ausgebrannt, haben vielleicht mit vielerlei Misserfolgen in beruflicher und privater Hinsicht zu kämpfen und eine jahrelange Leidensgeschichte hinter sich“, weiß Fuchs. ADHS-Patient*innen wird gesagt, sie seien unorganisiert, chaotisch oder hektisch. Viele von ihnen werden als „under achiever“ markiert – sie bleiben etwa in beruflicher Hinsicht unter ihren Möglichkeiten. In manchen Fällen sind die Patient*innen nicht von nur von ADHS betroffen, sondern entwickeln auch Zweitdiagnosen wie Depressionen oder Süchte.
„Die Diagnose kann dann Klarheit bringen, warum sich bestimmte Herausforderungen in manchen Lebensabschnitten so schwierig gestalteten“, weiß der Experte. Bis vor ungefähr 15 Jahren wurde die Diagnose von ADHS bei Erwachsenen jedoch sehr selten gestellt. Das ist nun anders – und gibt somit für den Betroffenen die Chance, spezifische Therapien in Anspruch zu nehmen.
Vorurteile
„Gegenüber der Erkrankung an sich haben sich sicher mittlerweile viele Missverständnisse und Vorurteile in der Bevölkerung gelegt. Manchmal erfordert es in der Therapie aber eine Kommunikation mit der Schule, die sich – häufig zurecht – auf eine herausfordernde Zeit einstellt“, so Martin Fuchs. Kinder mit ADHS seien oft sozial und feinfühlig, aber in manchen Situationen können sie anders wirken und daher werden sie von Gleichaltrigen gemieden, so der Experte. „Vorurteile gibt und gab es auch gegenüber der medikamentösen Therapie, das Medikament Ritalin war oft Gegenstand von Spott und Stigma. Aber auch hier hat sich Gott sei Dank in der Wahrnehmung der Bevölkerung viel getan.“
Verschiedene Therapien
Wie sollte ADHS nun therapiert werden? Oft reichen Diagnose sowie das Bewusstsein, von ADHS betroffen zu sein, um besser mit der Krankheit umzugehen. Dennoch gibt es einige Therapiemöglichkeiten: „Es gibt fachlich sehr gute Ratgeber-Literatur, ein Coaching für die Familie kann zusätzlich nützlich sein. Ein Gespräch mit der Schule bringt in manchen Fällen Klarheit.“ Im Kindesalter ist ein/e Facharzt/Fachärztin für Kinder und Jugendpsychiatrie oder ein entsprechendes Ambulatorium die erste Anlaufstelle. Es sollte zudem – gemeinsam mit den Eltern – besprochen werden, was ADHS genau bedeutet, und eine zusätzliche körperliche Untersuchung ist ebenso ratsam.
Den Eltern rät der Arzt im Umgang mit dem betroffenen Kind folgendes zu beachten: „Kleine überschaubare Lerneinheiten, regelmäßige Pausen, wenig Außenreize und viel Möglichkeit zum ‚Auspowern’ sind hier wichtig.“ Schule bzw. Hort sollten ebenso miteinbezogen werden. Der/die behandelnde Facharzt/Fachärztin wird ggf. weitere Maßnahmen – wie Ergo- oder Physio und Psychotherapie oder Medikamente – veranlassen.
Neue Herausforderungen
Im Kindesalter geht es, so Martin Fuchs weiters, darum, das Vorankommen in der Schule abzusichern sowie die familiäre Kernstruktur zu stärken. In der Jugend kommen weitere Entwicklungsaufgaben hinzu, wie erste Schritte im Beruf, erste Beziehungen, Urlaube alleine oder der Führerschein. Der Umgang mit diesen Erfahrungen kann für ADHS-Betroffene besonders herausfordernd sein. „Auch hier bietet sich eine kinder- und jugendpsychiatrische Beratung an, die aber im Jugendalter die zunehmende Eigenverantwortung und Autonomie berücksichtigen muss. Jugendliche können in diesem Alter auch sehr von einer psychotherapeutischen Beratung profitieren und sozusagen „Expert*innen in eigener Sache“ werden.“ Martin Fuchs rät zudem: „Zu empfehlen sind Seiten wie das zentrale ADHS-Netzwerk, eine unabhängige und wissenschaftlich fundierte Informationsplattform aus Deutschland.“
Krankheit managen
Bei vielen Betroffenen stellt sich nach der Jugend oft eine Verbesserung ein, vor allem sollten aber ältere Jugendliche sowie Erwachsene mit fortlaufenden ADHS-Symptomen lernen, ihre Krankheit zu managen. In schwierigen Situationen sollten bessere Strukturen geschaffen werden, etwa durch das Führen eines Terminkalenders oder To-Do-Listen. In manchen Fällen ist dennoch die Einnahme von Medikamenten notwendig: „Zurzeit sind in Österreich vier Medikamente zugelassen, die hier zur Anwendung kommen – eine lebenslange medikamentöse Behandlung ist allerdings nur in sehr wenigen Fällen notwendig oder zielführend.“
Es hat nicht nur Nachteile, mit ADHS zu leben, betont Martin Fuchs: ADHS-Betroffene sind oft kreativ, begeisterungsfähig, entschlussfreudig, aufgeschlossen, sozial und aktiv.