Schüler*innen mit Migrationshintergrund schneiden bei standardisierten Tests durchschnittlich schlechter ab und verlassen die Schule öfter ohne Abschluss als Kinder der Mehrheitsgesellschaft. In ihrer Dissertation an der Paris Lodron Universität Salzburg stellte die Psychologin Haliemah Mocevic fest, dass Lehrpersonen mit kleinen, gezielten Interventionen zum Bildungserfolg dieser Schüler*innen beitragen können. „Das sind psychologisch fundierte Unterrichtsstrategien, die Lernenden dabei helfen, eine positive Überzeugungen über sich zu entwickeln- auch wenn ihre Kompetenz oder Zugehörigkeit infrage gestellt wird“, erklärt Haliemah Mocevic den Begriff Intervention in diesem Zusammenhang.
Zwei psychologische Theorien
Haliemah Mocevic stützte dabei den Theorieteil ihrer Arbeit auf zwei Thesen: Der erste bezieht sich auf das Phänomen der „Stereotype Threat“: „In den 90er Jahren stellten Steele und Aronson die Hypothese auf, dass weitverbreitete Stereotype eine Rolle dabei spielen könnten, dass Studierende mit Minderheitenzugehörigkeit ihre Leistungen an Universitäten nicht zur Gänze entfalten können“, erläutert Mocevic. Claude Steele und Joshua Aronson führten eine Reihe von Experimenten mit afroamerikanischen und weißen College-Studierenden durch und testeten, die Rolle der Aktivierung von Stereotypen und deren Auswirkungen auf die Leistung der Studierenden. „Sie fanden heraus, dass Lernende aus stereotypisierten Gruppen in schwierigen Prüfungssituationen tatsächlich schlechter abschnitten, wenn sie vor dem Test mit Stereotypen konfrontiert wurden. Auch in meiner empirischen Feldstudie war der leistungsmindernde Effekt zu finden. Weit verbreitete Vorurteile über bestimmte soziale Gruppen stellen demnach eine Stressquelle dar, welche die Leistungsfähigkeit von Schüler*innen mit Migrationshintergrund in der Schule einschränkt“, führt Mocevic aus. Als zweite These wählte Mocevic die Theorie der grundlegenden psychologischen Bedürfnisse („Basic Psychological Needs Theory“). „Sie besagt im Wesentlichen, dass die Befriedigung der psychologischen Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit für Motivation, effektives Handeln und psychische Gesundheit, gerade im Bildungsgeschehen, eine entscheidende Rolle spielen.“
Studie mit AHS-Schüler*innen
Danach hat Haliemah Mocevic als eine der ersten Wissenschafter*innen in Österreich in einer empirischen Arbeit untersucht, inwiefern durch kleine Interventionen leistungseinschränkende psychologische Barrieren überwunden werden: Dazu führte sie einen Test mit 467 Schüler*innen der 9. und 10. Schulstufe durch: Diese sollten mathematische und sprachliche Aufgaben in einer Unterrichtseinheit lösen. Dazu wurde ihnen ein Fragebogen vorgelegt und auf diesen Fragebogen befanden sich unterschiedliche Anweisungen, in denen entweder Stereotype aktiviert wurden oder eben nicht. So erhielt die eine Gruppe folgende Anweisung: „Da Leistungstests oft bei Auswahlsituationen z. B. bei Jobs oder Aufnahmeverfahren an Universitäten verwendet werden, untersuchen wir in der vorliegenden Studie, warum Schüler*innen unterschiedlicher Gruppen (mit/ohne Migrationshintergrund; Mädchen/Burschen) bei Denk-Aufgaben unterschiedliche Leistungen erbringen.“ In der Kontrollgruppe wurden keine Stereotype aktiviert, dort stand am Fragebogen lediglich: „In der vorliegenden Untersuchung interessiert uns, wie Schüler*innen an österreichischen Schulen mit Herausforderungen, die für den schulischen Alltag von Bedeutung sein können, umgehen.“
Zudem wurden in der ersten Gruppe demographische Daten wie der Migrationshintergrund oder die Erstsprache vor der Leistungserbringung abgefragt, bei der Kontrollgruppe geschah dies erst danach. Und bei der einen Gruppe wurde gezielt nur die Identität als Person mit Migrationshintergrund erwähnt, in der anderen wurden unterschiedliche Identitätsmerkmale wie Hobbys oder das Alter angesprochen.
Schüler*innen mit Migrationshintergrund wird weniger zugetraut
Laut Haliemah Mocevic betrifft Menschen mit Migrationshintergrund oft die Frustration des Kompetenzerlebens, ihnen wird also weniger zugetraut – und das hat Auswirkungen auf ihre Leistung und Motivation. „Wenn es künftig gelingt, dass Schüler*innen sich in der Schule autonom, kompetent und sozial eingebunden fühlen, haben sie viel günstigere Lernvoraussetzungen“, zieht Haliemah Mocevic Resümee. Auf die Frage, woran es denn aktuell an Schulen und Lehrpersonal in Bezug auf den Umgang mit Schüler*innen mit Migrationshintergrund mangle, antwortet sie, dass Debatten rund um die Bildungsbeteiligung benachteiligter sozialer Gruppen oft auf die strukturelle Dimensionen reduziert werden. Es sei vielmehr ebenso wichtig, Lehrer*innen mehr miteinzubeziehen: „Die Befunde zeigen, dass ergänzend dazu, auch die professionelle Ausgestaltung von Lehr-Lerninteraktionen unter Berücksichtigung psychologischer Faktoren sowie zeitgemäßer Anforderungen an Diversität und Gleichstellung eine maßgebliche Rolle für den Abbau von Bildungsungleichheiten spielen können.“
Interventionen in der Schule für mehr Bildungserfolge
Zudem sei es ebenso von Bedeutung, eine kritische Analyse des Begriffs vorzunehmen, denn: „Keinesfalls ist ‚der ethnische Hintergrund‘ an sich, der zu geringeren Leistungen führt, vielmehr sind es soziale Begleitphänomene.“ Haliemah Mocevic plädiert dafür, dass in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen eine diskriminierungskritische Haltung forciert werden sollte und dass diese konkrete Methoden lernen sollten, mit denen Benachteiligungen entgegengewirkt werden kann.
„Im schulischen Kontext können die psychologischen Grundbedürfnisse der Schüler*innen nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Einbindung durch bedürfnisfördernden Unterricht (need supportive teaching) unterstützt werden“, so Haliemah Mocevic. Des Weiteren können Interventionen angewendet werden: Die Schüler*innen sollen ein positives Selbstbild durch die Lehrkräfte erhalten. Diese Methoden seien, so Mocevic abschließend, simpel, können ohne großen Aufwand in den Schulalltag eingebaut werden und leisten einen Beitrag dazu, dass benachteiligte Kinder und Jugendliche ihre Potenziale besser entfalten können.
Haliemah Mocevic ist sowohl Senior Scientist an der Uni Salzburg als auch Klinische Psychologin & Gesundheitspsychologin und Coach in freier Praxis. Für ihre Dissertation am Fachbereich Erziehungswissenschaft wurde sie sowohl mit dem Young Investigators Award der Paris Lodron Universität Salzburg 2021 als auch mit dem Dissertationspreis für Migrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften prämiert.