Amerikas Ivy League Universitäten gelten vielen als Vorbild, als Bastion der hehren Lehre und Forschung. Auch die Penn State University zählt zum elitären Kreis und macht nun durch einen außergewöhnlichen Kurs auf sich aufmerksam. Kenneth Goldsmith, Poet Laureate des New Yorker MOMA Museums, der schon Präsident Obama seine Verse vorgetragen hat, lädt zum Kurs Wasting Time on the Internet. Der hält, was der Titel verspricht. Drei Stunden lang surfen die Studenten im Netz. Nichts ist verboten. Ablenkung verpflichtend. Aus Twitter-Feeds können Dada-Gedichte entstehen, selbst die Browser-History taugt zur Literatur. Online-Vagabundieren im Dienste der Poesie. Geht es nach Goldsmith, dann sollen die Studierenden in einen Trance-Zustand kommen, ähnlich einem Tagtraum. Perfekt für kreative Impulse, findet Goldsmith, der Literatur nicht länger „schreibt“, sondern „rendert“. Schluss mit den Schuldgefühlen beim sinnlosen Surfen, deklamiert er. Alles ist Poesie! Doch wie geht es dem Gehirn beim Internet-Surfen wirklich? Gibt es den erholsamen, virtuellen Spaziergang durch die Informationskaskaden des Netzes? Der Leiter der Abteilung für Neurophysiologie am Zentrum für Hirnforschung der MedUni Wien, Jürgen Sandkühler, hat seine Zweifel. Ein virtuelles Ferngespräch über das Netz als Kreativitätsmotor und Erschöpfungsmaschine.
Herr Goldsmith, Herr Sandkühler, wie viel Zeit verbringen sie täglich im Internet?
Kenneth Goldsmith: Die bessere Frage wäre wohl, wie viel Zeit verbringe ich täglich nicht im Internet.
Jürgen Sandkühler: Das ist ganz unterschiedlich. Zwischen 0 und 9 Stunden. Manchmal, wenn ich wissenschaftlich arbeite und recherchiere, verbringe ich ganze Tage im Internet. Dann bin ich praktisch immer online.
Herr Goldsmith, wie hat das Internet ihr Schreiben in den vergangenen Jahren verändert?
KG: Ich habe nicht mehr das Bedürfnis, Neues zu schreiben. Ich schnappe mir einfach existierende Worte, copy and paste, ich stehle sie und gebe sie als meine eigenen aus.
JS: Das ist ein sehr pessimistischer Ansatz. Auch in der Musik ist die Anzahl der Noten begrenzt. Kein Musiker käme aber auf die Idee, dass alles schon komponiert wäre. Das Potenzial an Neuem ist generell unerschöpflich. Für mich klingt es, als hätte Herr Goldsmith aufgegeben, vielleicht diagnostiziere ich auch eine endogene Depression.
Welche neuen Fähigkeiten erlernen wir durch das Surfen im Netz? Wie erweitern sie unser literarisches Vokabular?
KG: Wir können das gesamte Netz ausschneiden und wieder verwerten, dadurch wird das ganze Internet zu einem Gedicht. Unsere literarische Stimme ist heute die literarische Stimme von anderen. Wir sind keine ego-getriebenen Künstler mehr.
JS: Bei neuen Fähigkeiten wäre ich mir nicht so sicher. Die allermeisten Suchanfragen sollen ja nur aus einem Wort bestehen. Man muss aber lernen, strukturelle Fragen zu stellen, sie zu schärfen.
Gibt es neue Techniken des Schreibens, neue geistige Fähigkeiten, die ihnen auffallen?
„Poesie ist heute alles, das nicht wie Poesie aussieht.“ – Kenneth Goldsmith
KG: Poesie ist heute alles, das nicht wie Poesie aussieht. Das neue Versmaß für Gedichte ist nicht mehr das Sonnet sondern die Datenbank.
Aber sind nicht gerade Fokussierung, Reflektion und Zeit zum Nachdenken eine entscheidende Zutat jeder literarischen Tätigkeit?
KG: Natürlich. Wir sind auch immer noch fokussiert. Aber auf eine andere Weise; abgelenkt, bewusst fokussiert.
Wo ziehen sie die Trennlinie zwischen einer kreativen Ablenkung durch Surfen im Netz und Überforderung?
KG: Es geht immer um Achtsamkeit und Kontrolle. Wir kontrollieren unsere Erfahrung im Netz, wir basteln daraus eine Theorie anstatt die Erfahrung automatisch ablaufen zu lassen.
JS: Das Suchtpotenzial des Internets ist jedenfalls da. Es lenkt ab, vertreibt die Langeweile. Das hängt natürlich sehr von der betreffenden Person ab. Aber viele werden irgendwann die Nase voll haben. Das ist auch eine Modewelle, es wird eine Rückbesinnung geben. So wie die Kinos gestorben und dann wieder attraktiv geworden sind.
Baut die Vorstellung von kreativem Nichtstun nicht auf das unbeabsichtigte Schweifenlassen der Gedanken, auf den Zufall auf?
KG: Es gibt nicht die eine Vorstellung von Kreativität. Da gibt es eine lange Tradition von prozess-orientierter Literatur. Das ist ein mechanischer, mathematischer Prozess, der Zufälligkeit einfach ausradiert.
„Kenneth Goldsmith verwechselt Muße mit Erschöpfung und Tagträumereien mit einem Verwirrtheitszustand.“ – Jürgen Sandkühler
Entspricht es nicht viel eher einem Tagtraum, den Blick gedankenverloren durch die Natur gleiten zu lassen als sich durch Technologie in einen trance-ähnlichen Zustand zu versetzen? Oder ist das für sie dasselbe? Wenn nicht, worin besteht der Unterschied?
KG: Ich denke, das ist dasselbe.
JS: Das sehe ich ganz anders. Muße ist das genaue Gegenteil davon. Kenneth Goldsmith verwechselt Muße mit Erschöpfung und Tagträumereien mit einem Verwirrtheitszustand. Bei Tagträumen gehen die Gedanken von einem selbst aus. Ich lasse meine Gedanken schweifen und brauche eben gerade keine externen Trigger. Das entspannt, gibt Muße und schafft neue Erkenntnisse. Im EEG zeigen die Alpha-Wellen einen entspannten Zustand an. Den erreicht man durch geschlossene Augen und nur, wenn man keine höheren kognitiven Leistungen vollbringt. Wenn man nachdenkt, auch bei geschlossenen Augen, zeigen sich bereits Beta-Wellen. Es ist also anstrengender und weniger entspannend. Vor dem Computer ist es unmöglich, wirklich zu entspannen.
Es gibt unzählige Berichte von Menschen, die die sozialen Netzwerke verlassen, weil sie sich dort leer und verwirrt fühlen. Sie beklagen eine Art Lähmung durch die Informationsflut. Wissen diese Menschen einfach nicht, wie man das Internet nutzt?
KG: Ich glaube nicht, dass so viele wirklich weggehen. Das sagt zwar jeder, aber sie kommen doch alle zurück. Wir sind abhängig, wir sind verbunden, wir engagieren uns. Woher kommt all das schlechte Gewissen? Lasst uns doch einfach zugeben, dass das alles OK ist.
JS: Wir sollten nicht vergessen, dass Suchmaschinen und soziale Netzwerke nach Algorithmen und statistischen Auswertungen vorgehen. Sie bieten uns eine vorgefertigte Selektion aller möglichen Ergebnisse an. Das kann nur Mittelmaß sein. Für Google sind Überraschungen wohl ein Programmierfehler. Sie geben uns Erwartbares als Serviceleistung, das ist aber das Gegenteil von Kreativität.
Herr Goldsmith, sie bezeichnen reblogging und retweeting als literarische Tätigkeit. Was ist daran literarisch?
KG: Wir bewegen Worte von einem Ort an einen anderen. Was sonst sollte das sein? Das ist sicher kein Tanzen, Kochen oder ein Football-Match. Wenn wir es wollen, dann ist jede Arbeit mit Worten Literatur.
Was ist eigentlich Literatur für Sie?
Alles, das mit Literatur keine Ähnlichkeit hat.
Das erste Bild des Artikels zeigt Kenneth Goldsmith, stammt von Marisol Rodriguez und heißt „Printing Out The Internet, Mexico City, 2013.