Adipositas ist eine Krankheit, die in unserer Gesellschaft nach wie vor stark stigmatisiert wird. Erkrankte sind dabei Stereotypien wie Trägheit oder Leistungsverweigerung ausgesetzt, werden als willenlos oder faul abgestempelt. Ihr Leiden sei selbstverschuldet, das ließe sich ja leicht ändern, wären sie körperlich nicht derart passiv oder hätten sich besser unter Kontrolle.
Dabei gibt es bei Adipositas multifaktorielle Gründe dafür, warum Menschen darunter leiden. Genetische Prädisposition, der Lebensstil oder die soziale Situation können Faktoren sein, die dazu beitragen. „In meiner Erfahrung ist es so, dass viele von den Betroffenen in eine Misshandlungserfahrung geraten sind“, erzählt Frau Dr.in Bianca-Karla Itariu. Sie ist Fachärztin für Innere Medizin an der Medizinischen Universität Wien und Leiterin der internistischen Adipositas-Ambulanz im AKH Wien. Der Begriff Adipositas kommt aus dem Lateinischen und bedeutet krankhaftes oder starkes Übergewicht. Adipositas ist synonym mit „Fettleibigkeit“ oder „Fettsucht“. Als Maß, ob jemand lediglich übergewichtig oder gesundheitsgefährdendes Übergewicht hat, wird der Body-Mass-Index herangezogen.
Stigmatisierung wegen Unwissen
Durch unseren christlichen Background würde Adipositas mit Völlerei, mit Sünde und folgend auch mit Kontrollverlust und fehlender Selbstbeherrschung assoziiert werden, erklärt sie die gesellschaftliche Stigmatisierung der Krankheit. Aber eine weitere Komponente spielt hier eine Rolle: das Unwissen. “Jede Krankheit, deren Physiologie nicht gut verstanden wird und deren Behandlung manchmal nicht ganz wirksam ist, neigt dazu, andere Signifikanzen und Valenzen zu bekommen und als Metapher benutzt zu werden, um das auszubügeln, was gesellschaftlich schief läuft”, führt sie am Telefon aus und referenziert sich dabei auf ein Essay von Susan Sontag, in dem diese über ihre Krebserkrankung schreibt.
Die Ohnmacht gegenüber der Erkrankung wird mit Unwissen gehandhabt und es entsteht Diskriminierung. Die Krankheit würde zum Adjektiv werden, sagt die Internistin. Viele Erkrankungen sind unter der Haut, man kann sie nicht sehen. Adipositas hingegen ist eine Krankheit, die offensichtlich ist. Laut österreichischem Ernährungsbericht sind 41 Prozent der Menschen in Österreich übergewichtig. Männer sind dabei häufiger übergewichtig und an der Volkskrankheit erkrankt als Frauen. 41 Prozent, das ist in Österreich beinahe jede zweite Person, die entweder übergewichtig oder adipös ist.
Was muss passieren, damit Stigmatisierung aus der Gesellschaft herausgelöst werden kann? Wie so oft spielt es eine Rolle, wie wir darüber sprechen: “Wenn man mit Sprache impliziert, dass durch Willenskraft alles in Reichweite ist, hat man verloren”, ermahnt Itariu. Dem*r Einzelnen die Schuld zu geben und sie alleine zu lassen, sei nicht die Lösung. Hier zieht sie eine Parallele zur Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, die Sterbehilfe zu ermöglichen. Denn: Würde und Selbstbestimmung des Menschen sind höchste Güter und diese beiden Faktoren seien auch im Narrativ der Adipositas zu finden. “Auch hier soll betroffenen Menschen Würde und Selbstbestimmung gegönnt sein”, postuliert sie. Man müsse darüber reden und den Blickwinkel ändern.
Ein neuer Blickwinkel wäre, dass XL-Models nun auch endlich auf den Laufstegen und auf den Covers der Modewelt zu sehen sind. Dass Plus-Size-Models wie die in London geborene Paloma Elsesser auf dem Cover der Vogue zu sehen ist, ist ein sehr lange überfälliger Fortschritt. Für junge Mädchen kann das empowernd sein: “Auch ohne Idealmaße kann ich begehrenswert sein und akzeptiert werden.” Jedoch, so mahnt Dr.in Itariu, soll das nicht implizieren, dass man Adipositas verharmlosen soll, schließlich handelt es sich hierbei um eine ernst zu nehmende Erkrankung. Aber an Körperbildern zu arbeiten, das sei ein Anfang. Die Gesellschaft müsse akzeptieren, dass Adipositas eine Erkrankung ist und wir müssten auch über realistische Möglichkeiten sprechen.
Auch COVID-19 hat sich auf die Krankheit ausgewirkt
Als positives Beispiel erwähnt sie Italien, wo Adipositas als Krankheit per Gesetz anerkannt wurde. Das sei zwar auch politisch, aber es träge dazu bei, dass sich der gesellschaftliche Diskurs ändere: “Für andere Suchterkrankungen hat man schon Lösungsmöglichkeiten, warum nicht für Adipositas?”
Eine Möglichkeit, Adipositas zu behandeln, ist der Magenbypass. Dr.in Itariu betont, dass diese Art der Behandlung bei höhergradiger Adipositas auch die effektivste ist – immerhin 50 Prozent des überschüssigen Gewichts können mit dieser Operation reduziert werden. In Österreich wird der Magenbypass zudem zurückerstattet. Im medizinischen Umfeld würde das noch zu wenig als Möglichkeit kommuniziert werden, außer natürlich die Menschen kommen in Spezialambulanzen wie ihre.
Wie wir inzwischen wissen, hat sich zudem auch die Pandemie prinzipiell negativ auf Essstörungen wie Anorexie, Bulimie und Adipositas ausgewirkt. Nach dem ersten Lockdown haben die Menschen im Schnitt 4 bis 5 Kilo zugenommen, das gilt auch für Menschen mit Adipositas. Dadurch, dass man nicht wusste, was man darf und was nicht, war unsere Bewegung massiv eingeschränkt. “Als die Patienten*innen im Sommer wieder vermehrt in die Ambulanzen gekommen sind, haben wir gemerkt, dass es ein weit verbreitetes Phänomen ist”, erinnert sich die Internistin.
Wie bei allen Suchterkrankungen ist bei Betroffenen ein gewisser Grad an Selbstreflektion von Nöten und die Akzeptanz, dass es da ein Problem gibt. Als erste Anlaufstelle empfiehlt Dr.in Itariu den Hausarzt oder die Hausärztin, eine*n Internist*in oder auch eine*n Psychiater*in. 25 Prozent ihrer Patienten*innen seien auch in psychiatrischer Behandlung. Aber hier muss man wieder die Selbstbestimmung erwähnen: Viele fühlen sich wohl in ihrem Körper und sie möchten auch nichts daran ändern. “Oft werden Menschen von ihren Hausärztinnen zu uns geschickt und erklären dann, dass sie ihr Gewicht in Ordnung finden und keine Behandlung brauchen.” Diesen Patienten*innen reiche es, wenn der Blutdruck und der Zucker kontrolliert werden würde.
Schwieriger wird es, wenn man merkt, dass jemand im eigenen Umfeld unter der Krankheit leidet. Hier müsse man wahnsinnig vorsichtig sein, schließlich handelt es sich doch um ein extrem sensibles Thema. Man müsse eine Plattform bieten, wo man in geschütztem Rahmen darüber sprechen kann. Zudem: Sucht hat auch immer etwas mit Scham zu tun.
“Betroffene trauen sich oft nicht mehr, die U-Bahn zu nehmen oder leiden unter einer stark ausgeprägten Sozialphobie. Ich merke auch in der Ambulanz, dass mehr Patienten*innen angemeldet sind als dann in Wirklichkeit erscheinen”, berichtet die Internistin. Jede Woche würden 10 Prozent der vorangemeldeten Patienten*innen nicht erscheinen. Als Gesellschaft müssen wir daran arbeiten, dass Adipositas als das gesehen wird, was sie ist: eine chronische Erkrankung, die zum frühzeitigen Tod führen kann. Eine Krankheit, die das Wohlbefinden der Betroffenen oft massiv einschränkt. Aber auch eine Krankheit, die wir endlich aufhören müssen, zu stigmatisieren.
Heute ist Welt-Adipositastag. Zu diesem Anlass informiert Frau Doktorin Itariu bei einem Online-Event der MedUni Wien gemeinsam mit anderen Expert*innen über das Thema. Den Link zum Stream findet ihr hier.