Romy Müller hat für diesen Gastbeitrag mit Anna Schober, Professorin für Visuelle Kultur, darüber gesprochen, wie Bilder in Krisenzeiten wirken und welche Rolle Kunst und Kultur in diesen Tagen einnehmen.
Das Interview wurde am 30. März 2020 von Romy Müller geführt und am 31. März 2020 auf der Website der Uni Klagenfurt veröffentlicht.
Wie geht es Ihnen, Frau Schober?
Mir geht es den Umständen entsprechend relativ gut. Derzeit muss alles auf einmal umgestellt werden – vor allem in der universitären Lehre. Das ist natürlich viel und insofern herausfordernd. Gleichzeitig müssen mein Mann und ich unseren Sohn zuhause unterrichten, was auch nicht ganz einfach ist.
Menschen singen auf Balkonen und viele Kunstschaffende bieten ihre Performances online an. Wie deuten sie die vielfältige Präsenz künstlerischer Ausdrucksformen in der Coronakrise?
Im Moment fehlen uns öffentliche Räume und Beziehungsorte, in denen wir einander begegnen können. Wir sind ja alle verpflichtet, zuhause zu bleiben. Um ein bedeutungsvolles, öffentliches und gemeinsames Leben zu führen, brauchen wir aber den Austausch. Kunst und Kultur können uns das bieten und dabei unseren Sinn für Realität vertiefen.
Welche Rolle spielen dabei die Sozialen Medien?
Ich denke, dass die Balkonperformances ohne Soziale Medien nicht in dieser Weise existieren würden. Plattformen wie Facebook ermöglichen es uns, solche Bilder ganz schnell zu teilen. So entstehen aber auch Echokammern: Jemand beginnt, andere machen das nach. Wenn so etwas sehr oft imitiert wird, verbraucht es sich jedoch sehr schnell. Ich möchte aber eine besonders eindrucksvolle Performance in Erinnerung rufen: Ganz zu Beginn hat jemand in Italien durch ein vergittertes Fenster hindurch Trompete gespielt. Diese Bilder waren sehr packend und aufwühlend, weil die Eingeschlossenheit und der Trompetenklang miteinander in Widerspruch standen.
Die Bilder in den Medien sind oft grausam. Särge, Urnen, überfüllte Intensivstationen – sie alle sind allgegenwärtig. Gibt es auch andere Bilder?
Bilder können uns oftmals auf die Realität in einer neuen, manchmal auch überraschenden Weise hinführen. Ich denke da zum Beispiel an ein Bild, das vor ein paar Tagen in Italien veröffentlicht wurde: Es zeigt einen Supermarkt in Prato, vor dem die Menschen aufgefädelt in zwei Metern Abstand zueinander warten. Das Bild erinnert in gewisser Weise an ein anderes von René Magritte („Golconda“). Es ist surreal und zeigt eine total veränderte Welt. Irritierend ist etwa, dass in Italien, wo Menschen sonst so nah aneinander leben, großer Abstand gehalten wird.
Welche Realität steht dahinter?
Dazu muss man wissen, dass in Prato überdurchschnittlich viele ChinesInnen leben, nicht nur als TextilarbeiterInnen, sondern auch selbst als UnternehmerInnen. Als diese ChinesInnen nach den Neujahrsfeiern zurück nach Italien kamen und sahen, wie Italien mit der steigenden Infektionszahl umging, haben sie versucht zu warnen und haben die Bevölkerung geschult, wie man sich schützen kann. Heute ist Prato eine der Städte in Italien (Toskana) mit relativ wenigen Infektionen. Dieses Bild führt uns auf den Kulturkontakt zwischen China und Italien hin: Der Kontakt bringt zwar die Ansteckung, aber auch die Lösung, indem man voneinander lernt. Es lenkt unsere Aufmerksamkeit auf etwas, das uns sonst nicht bewusst ist.
Nun werden in den nächsten Tagen die Mundschutzmasken allgegenwärtig werden, wo sich Menschen im noch übrig gebliebenen öffentlichen Raum begegnen. Dieses Bild ist in unserem Kulturkreis ungewohnt.
Dazu möchte ich betonen: Mundschutzmasken sind Teil unserer Kultur. Das wird oft vergessen. Ich habe mit Studierenden Bilder mit solchen Masken analysiert. Uns sind sie allerdings nur wenig bewusst, weil wir in der Regel nicht diejenigen sind, die von den Masken betroffen sind. Zum Beispiel werden Flüchtlinge an den südlichen Grenzen Europas immer von SanitäterInnen und PolizistInnen in Empfang genommen, die Mundschutzmasken tragen. Flüchtlinge gelten nach dieser Inszenierungspraxis als VirenträgerInnen, dabei gelte es eigentlich, sie zu schützen, weil sie nach langen, beschwerlichen Wegen angeschlagene Immunsysteme haben.
Diese Ikonographie finden wir in vielen anderen Darstellungen: Der Mundschutz ist ein Grenzsymbol; Seuchenärzte mit Schnabelmasken werden dargestellt, um ein Gemeinwesen abzugrenzen. Das Bestürzende für uns ist, dass wir plötzlich selbst betroffen sind und uns wechselseitig schützen müssen. Es ist uns auch nicht bewusst, wie viel abendländisch-christliche Ikonographie in diesen Bildern steckt. Manche der Bilder von Einwandernden, denen mit Masken begegnet wird, erinnern an Pieta-Bilder, also an Jesusdarstellungen. Andere, etwa Bilder in Zusammenhang mit Grablegung und Auferstehung zeigen Frauen, die sich ein Tuch vor der Nase halten. Das ist Teil unserer Kultur, aber uns nicht so bewusst.
Wie nachhaltig werden sich all diese Bilder, mit denen wir täglich konfrontiert sind, in unser Gedächtnis einprägen?
Ich würde das vergleichen mit der Zeit nach einer schweren Erkrankung: Die Bilder werden nachwirken, man wird aber schnell versuchen, wieder positiven Alltag zu leben. Das, was wir jetzt erleben, ist ein kollektives Trauma, die Frage ist nur: Machen wir es zu einem choosen trauma, wählen wir es also als identitätsbestimmend? Das Bild unseres Alltags wird sicher noch länger, bis zur Immunisierung durch eine Impfung, verändert sein – aber diese Bilder werden auch danach noch nachwirken.
Zur Person
Anna Schober-de Graaf ist Professorin für Visuelle Kultur am Institut für Kulturanalyse. Ihre Forschungsschwerpunkte sind populäre Bildmedien und Bildende Kunst der Moderne und der Gegenwart, Politische Ikonographie, Praktiken des Visuellen und Geschichte des Wahrnehmens, Ästhetik der Öffentlichkeit, Transnationalität und kulturelle Differenz sowie Methoden der Bild- und Kulturwissenschaften.