Die Blindenschrift Braille ist wohl jedem ein Begriff, jedoch beherrschen sie nur sehr wenige sehbehinderte Menschen. „Vor rund 50 Jahren konnten in den USA noch 50 Prozent der blinden Menschen Braille lesen und schreiben, heute sind es 10 Prozent“ erklärt Wolfgang Zagler von der TU Wien. Er entwickelt mit seinem Team ein handliches Lesegerät, auf dem Texte in Braille dargestellt werden können.
Der weit verbreitete Analphabetismus unter blinden Menschen sei allerdings ein sehr großes Problem. Dass nur mehr so wenige blinde Menschen Braille lesen und schreiben können, schreibt Zagler teils der modernen Technik zu. Mit dem Smartphone hat jeder ein praktisches Sprachausgabe-Gerät in der Tasche, dass das Lesen nicht mehr unbedingt nötig macht.
5000 € kostet ein Braille-Lesegerät
Die momentan erhältlichen Braille-Lesegeräte sind außerdem sehr unhandlich. Es handelt sich um 20 bis 40 Zentimeter lange Leisten, in welche für jeden Punkt der Blindenschrift ein Loch gebohrt ist. „In dem Loch bewegt sich ein kleiner Stift auf und ab, der, wenn er nach oben gefahren wird, den tastbaren Punkt bildet, und wenn er nach unten fährt, eine glatte Fläche ergibt“, erklärt Prof. Zagler. Die lesende Person fährt die Leiste mit dem Finger ab und ertastet so den Text, der zum Beispiel über eine SD-Karte übertragen wird.
Diese Geräte haben die Nachteile, dass sie sehr sperrig und außerdem teuer sind. „Bei einer Anzeige mit 80 Buchstaben kann man damit rechnen, dass das Gebilde jenseits der 5000 Euro kostet“, so Zagler. Allein schon der Preis des Lesegeräts macht es für viele Menschen, und vor allem für die Eltern von blinden Kindern, sehr unattraktiv.
Aber auch das Schulsystem ist Schuld am Analphabetismus bei blinden Menschen. Laut Zagler gebe es nicht genug Lehrer, die Braille-Kenntnisse haben. So werden Kinder mit Sehbehinderung allein mit Tonaufnahmen und der Sprachausgabe ihres Computers unterrichtet. „Damit verstellen sich für blinde Menschen echte Traumberufe, wie etwa Radio-Journalismus“, so Zagler. Auch andere Berufe, vor allem im EDV-Bereich, kommen nicht ohne gute Schriftkenntnisse aus.
Der Braille-Ring
Mit all diesen Problemen beschäftigt sich Zagler schon jahrzehntelang. In den nächsten 1,5 bis 2 Jahren wird es dann endlich ein handliches, robustes Lesegerät für blinde Menschen geben. Momentan steckt es noch in der Entwicklungsphase, einige mechanische Details sind noch nicht ausgereift. Vorstellen kann man sich einen Ring, in den die lesende Person den Finger steckt. Dann fährt sie mit dem Gerät über die Tischplatte, wobei der innere Teil des Rings rotiert. Für jeden abzubildenden Braille-Buchstaben gibt es ein Feld mit je sechs Stiftchen, die den Buchstaben bilden. Durch das Rotieren des Rings bei der Lesebewegung schiebt sich immer der nächste Buchstabe unter den Finger der lesenden Person. „Oben am Ring, auf 12 Uhr, erfolgt die Verstellung des Buchstabens, und sozusagen 8 Buchstaben später kommt sie in den Lesebereich unter dem Finger“, erklärt Zagler. So entstehe der Eindruck einer unendlich langen Zeile.
Bei den bis jetzt verwendeten Geräten muss die lesende Person am Ende der Leiste immer mit dem Finger zurück zum Anfang gehen, was das Lesevergnügen erheblich schmälert, vor allem in einer Sprache wie Deutsch mit ihren langen Wörtern. Neuere Versionen dieses Gerätes, also Zaglers Konkurrenz, sind kürzer als die älteren Modelle, wodurch Kosten gespart werden. Eine richtige Alternative seien diese allerdings nicht, sagt Zagler. Denn die meisten blinden Menschen leben in Entwicklungsländern, und diese Leseleisten sind sehr schmutzanfällig und haben filigrane, einzeln bewegte Stifte. Die hat Zagler beim Braille-Ring durch Zweiergruppen ersetzt, die auf einem beweglichen Drehband-Träger dargestellt werden. So ist der bewegte Teil des Geräts wesentlich robuster als die einzelnen Stiftchen.
Ein ganzes Regal für ein Buch in Blindenschrift
Der Lesering soll in etwa so viel kosten wie ein Smartphone, was nicht nur für Eltern blinder Kinder eine große Ersparnis bedeutet. Ein potenzieller zukünftiger Kunde von Zagler ist die Nationalbibliothek der USA, die Library of Congress in Washington. Sie hat den Auftrag, jedem amerikanischen Staatsbürger Bücher zur Verfügung zu stellen, die er gerne haben möchte. Ist der amerikanische Staatsbürger blind, müssen die Bücher eben in Blindeschrift geliefert werden, egal, wo in der Welt sich die Person befindet.
„Zum Vergleich: Die gesamte Bibel, also das Alte und Neue Testament, ist ja im Taschenbuchformat erhältlich. Übersetzt in Blindenschrift sind das mindestens 24 Lexikon-Bände, das würde also ein ganzes Regal füllen. Das kostet ein Schweinegeld“, sagt Zagler. Die Library of Congress würde stattdessen jeder blinden Person, die sie beliefert, einfach den Braille-Ring schenken und das Buch digital zur Verfügung stellen.
Weitere Möglichkeiten für Lesegeräte wie den Ring wären zum Beispiel Bankomaten. Diese haben zwar schon tastbare Braille-Zeichen auf den Knöpfen und eine Buchse für Kopfhörer für die Sprachausgabe, richtig sicher ist das allerdings noch nicht. Der Ring könnte entweder am Automaten selber vorhanden sein oder mit diesem über ein sicheres Kabel verbunden werden, sodass blinde Menschen ungestört ihren Bankgeschäften nachgehen können. Ähnliches wäre bei Ticketschaltern, Untertitel-Anzeigen in Opern und auch digitalen Speisekarten möglich. „Die Zukunft schaut recht interessant aus, aber es muss erst die Barriere des Analphabetismus gebrochen werden, damit solche Angebote attraktiv werden“, sagt Zagler.