Anders als unsere Augen und Ohren, nimmt unsere Haut mehrere unterschiedliche Sinneseindrücke wahr: Temperatur, Feuchtigkeit, Druck. Ein solches Multitalent mit den Mitteln der Technik nachzuempfinden, ist gelinde gesagt aufwendig. Wenn Anna Maria Coclite, Materialwissenschaftlerin an der TU Graz erklärt, wie das funktioniert, klingt es allerdings ganz einfach – zumindest im Prinzip: „Das Nano-Kompositmaterial besteht aus unzähligen Nano-Stäbchen. Den Kern dieser Stäbchen bildet ein Polymer, das Flüssigkeit speichern kann. Umgeben ist es von einer piezoelektronischen Schicht aus Zinkoxid.“
Im Prinzip ganz einfach
Piezoelektrizität? Sie beschreibt Spannungsänderungen an Festkörpern, wenn diese verformt werden. Das macht man sich etwa bei Tonabnehmern von Akustikgitarren oder Geigen zu nutze. Die Schwingung der Saiten verformt das Piezo-Element des Tonabnehmers, der so angeregt eine Wechselspannung abgibt.
Bei der künstlichen Haut passiert das Gleiche, jedoch in einem viel kleineren Maßstab: Wird Druck auf die künstliche Haut ausgeübt, verformt sich diese und die Piezoschicht sendet ein elektrisches Signal aus. Das gleiche passiert dank des flüssigkeitsspeichernden Polymers bei Feuchtigkeits- und Temperaturschwankungen. Bei Kälte dehnt es sich aus, bei Wärme zieht es sich zusammen und übt so Druck auf die umgebende Piezo-Schicht aus.
Bakterien fühlen können
Bei den verwendeten nanotechnologischen Fertigungsverfahren werden Teilchen manipuliert, die rund eine Million Mal kleiner sind als der Kopf einer Stecknadel. Nur aufgrund dieses Größenordnung ist es möglich, die Eigenschaften natürlicher Haut nachzuempfinden. Dazu zählt auch Fingerspitzengefühl: 2.000 Nanostäbchen pro Quadratmillimeter sorgen dafür, dass die künstliche Haut eine Auflösung von weiter unter einem Millimeter, was in etwa jener unserer Fingerkuppen entspricht, erreicht. „Im Moment arbeiten wir daran, die Auflösung noch deutlich zu steigern. Bis zu 200 Nanometer und damit 20.000-fach feiner als unsere Fingerkuppen sollten möglich sein. Damit wäre es möglich, eine Bakterien-Kolonie zu fühlen“, erklärt Coclite.
Roboter mit Fingerspitzengefühl
Bleibt nur die Frage, ob man das auch möchte. Die Wissenschaftlerin gibt aber Entwarnung. Dass wir zukünftig mit künstlichen, hypersensiblen Fingerkuppen ein Cyborg-Dasein fristen werden, hält sie für unrealistisch: „Kurzfristig wird die Technologie vor allem im Bereich der Robotik Einzug halten. Ich gehe davon aus, dass es in fünf Jahren erste konkrete Produkte und Anwendungen geben wird“, verrät sie.
Wird es in unserem Alltag also bald schon von Robotern mit Gefühlen wimmeln? „Gefühle im Sinne von Emotionen werden Roboter natürlich nicht haben, aber Feingefühl. Sie könnten spüren, ob Gegenstände warm, kalt, nass, trocken, fest oder weich sind.“ Aufgrund dieser taktilen Informationen sind für uns alltägliche Handlungen wie etwa abspülen kaum ein Problem. Für Roboter stellt es aber nach wie vor eine Herausforderung dar: Die fragilen Weingläser müssen ganz anders gehandhabt werden als der gusseiserne Suppentopf.
Wearables der nächsten Generation
Die künstliche Haut könnte zukünftig bei Brandopfern als Ersatz dienen oder auf künstlichen Arm- oder Beinprothesen zum Einsatz kommen. Dafür müssen aber noch größere Fortschritte in der Verbindung elektronischer Sensoren mit dem Gehirn erzielt werden. Ein Cyborg-Szenario, in dem Implantate der Leistungssteigerung des Menschen dienen, ist aufgrund dessen eher unwahrscheinlich. Im Fall der hypersensiblen Fingerkuppen wäre zudem fraglich, ob unser Gehirn eine solche Informationsflut verarbeiten könnte.
Realistischer sind Anwendungen bei denen die Sensorik nicht mit unserem Gehirn, sondern mit Computern wie unseren Smartphones, kommuniziert, erklärt die Forscherin: „Unser Ziel ist es, Wearables zu entwickeln, die so winzig sind, dass sie überhaupt nicht stören oder auffallen.“ Die künstliche Haut an der Coclite und ihr Team arbeiten, ist dabei nur eine Möglichkeit. Eine andere sind Tech Tattoos: Das sind Schaltkreise und Sensoren, die quasi auf die Haut aufgemalt werden. Anders als richtige Tätowierungen sollen sie aber abwaschbar sein. „Diese Technologien können uns dabei helfen, mehr über unseren Körper zu erfahren und ein stärkeres Bewusstsein für dessen Bedürfnisse zu entwickeln“, sagt die Chemikerin.
Multifunktionshaut
Die künstliche Haut ist zudem nicht darauf beschränkt, Druck, Temperatur und Feuchtigkeit zu messen. Sie könnte auch den PH-Wert der Haut messen. Wird dieser zu sauer, könnte uns das Smartphone daran erinnern, etwas zu trinken. In einem anderen Szenario, könnte sie die Art und Weise, wie wir Medikamente einnehmen, revolutionieren:
„Man könnte die Haut auch zur Verabreichung von Arzneimitteln verwenden. Dazu müsste man Nanostäbchen mit einem entsprechenden Wirkstoff befüllen und ein Ereignis definieren, bei dem dieser abgegeben werden soll. Die Sensorik in der Haut könnte zum Beispiel dazu dienen, den Blutzuckerspiegel von Diabetikern zu überwachen und die Abgabe von Insulin zu steuern“, skizziert die Forscherin. Noch ist das aber alles Zukunftsmusik und wir müssen unsere Tabletten noch selber schlucken. Coclites Forschung macht aber schon jetzt deutlich, dass die künstliche Haut eine flexible Plattform für unterschiedlichste Anwendungen sein könnte.