Antisemitismus bezeichnet Diskriminierung von und Vorurteile gegen Jüd*innen sowie Feindseligkeit und Gewalt gegenüber Jüd*innen und jüdischen Einrichtungen. In der Wissenschaft gibt es verschiedene Definitionen des Antisemitismus, wie die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) oder die Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) erläutert Gerald Lamprecht. Der Professor für Jüdische Geschichte und Zeitgeschichte leitet das Centrum für Jüdische Studien an der Universität Graz und koordiniert die Arbeitsgruppe Antisemitismusforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Erscheinungsformen
Es gibt unterschiedliche Erscheinungsformen des Antisemitismus wie etwa religiös motivierten Antisemitismus, der christliche Wurzeln hat, den rassistischen, modernen Antisemitismus der seinen Ursprung im späten 19. Jahrhundert hat, wie auch einen muslimisch/arabischen/islamistischen Antisemitismus mit Bezug zum Nahost-Konflikt oder den sekundären Antisemitismus. Darunter versteht man jede Art der Holocaust-Leugnung bzw. -relativierung seit 1945. Der sekundäre Antisemitismus ist eng mit Schuldabwehr verbunden, betont Gerald Lamprecht: „Man hasst die Jüd*innen, weil sie an das Menschheitsverbrechen des Holocausts, das man begangen hat, erinnern. Ihre bloße Existenz führt die eigenen Taten vor Augen.“ Aktuell ist ein auf Israel bezogener Antisemitismus sehr präsent, wobei hier der Staat Israel, ähnlich wie in anderen Formen des Antisemitismus „die Jüd*innen“, für alle Übel der Welt verantwortlich gemacht wird.
Wer ist Jude/Jüdin?
Wer überhaupt Jude bzw. Jüdin ist, wird auch innerhalb des Judentums diskutiert, denn Jüd*innen bilden nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern identifizieren sich auch als Teil einer Schicksalsgemeinschaft, die durch gemeinsame Traditionen, Werte, Glaubenspraktiken, Kultur und Geschichte verbunden ist. Jüdischsein kann somit sowohl als religiöse als auch als ethnische Zugehörigkeit verstanden werden. Einen eigenen jüdischen Staat Israel gibt es dabei erst seit 1948, davor hatten Jüd*innen kein nationalstaatliches Territorium und gehörten vielen Staaten an.
Früher Antisemitismus
Antisemitismus sind Jüd*innen seit langem ausgesetzt: Schließlich ging das Christentum aus dem Judentum hervor, Jesus, Begründer des christlichen Glaubens, war selbst Jude. Spätestens als das Christentum zur Staatsreligion wurde, wandelte sich die (Macht)Beziehung zwischen Judentum und Christentum. Jüd*innen wurde „Verstocktheit“ vorgeworfen, da sie Jesus als Messias nicht anerkannten. Bildlichen Ausdruck findet dieses Verhältnis in mittelalterlichen Darstellungen der Synagoga und Ecclesia. Diese religiösen Wurzeln des Antijudaismus hatten konkrete Auswirkungen auf das Leben der Jüd*innen unter christlicher Herrschaft. Sie wurden aus vielen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bereichen verdrängt. „Besonders in Zeiten der Unsicherheit und Krise wurde ihnen Schuld zugeschoben“, erinnert Gerald Lamprecht. So wurden Jüd*innen im Mittelalter während der Pest als „Brunnenvergifter“ und damit Verursacher der Pest dargestellt; sie waren Opfer von Hetze, Verfolgung und Vertreibung.
Moderner Antisemitismus
Im 19. Jahrhundert entstand ein moderner Antisemitismus: Dieser äußerte sich als vermeintlich rational und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit beruhend. Zu dieser Zeit veränderten unter anderem wissenschaftliche, technische und politisch-emanzipatorische Errungenschaften Wirtschaft und Gesellschaft fundamental – und Antisemit*innen lieferte in diesen von vielen als krisenhaft empfundenen Zeiten vereinfachte Antworten. Es entstanden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts antisemitische Parteien und Vereine, auch in Österreich: So ging der Aufstieg der Christlich-Sozialen-Partei (CS oder CSP), die als Vorläufer der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) gilt, stark mit Antisemitismus einher; ihr Gründer Karl Lueger, der von 1897 bis 1910 Wiener Bürgermeister war, war ein bekennender Antisemit. Der Antisemitismus erreichte mit dem Holocaust seinen traurigen Tiefpunkt: Die Nationalsozialist*innen und ihre Kollaborateure ermordeten 6 Millionen Jüdinnen und Juden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Mit dem Kriegsende und dem Ende des NS-Herrschaft verschwand der Antisemitismus nicht: Obwohl er im öffentlichen und politischen Diskurs diskreditiert war, gab es weiterhin antisemitisches Sprechen und Handeln. Antisemit*innen agieren nun mitunter verdeckter, doch ihre Sprachbilder und antisemitischen Codes werden verstanden. Antisemitismus unterscheidet sich dabei von Rassismus, wie Gerald Lamprecht betont: „Rassismus ist eine Form der Ablehnung, bei der immer eine bestimmte Gruppe von Menschen abgewertet und als minderwertig betrachtet wird. Antisemit*innen werten zwar auch ab, jedoch schreiben sie Jüd*innen zugleich Macht zu.“
Nahostkonflikt und Pandemie
Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den ihm folgenden Kriegen in Gaza und dem Libanon nimmt der Antisemitismus weltweit zu: „Dabei wird der Konflikt zwischen Jüd*innen und Palästinensier*innen auch medial – vor allem auf Social Media – ausgetragen. Vor allem die Sozialen Medien mit ihren spezifischen Logiken tragen dazu bei, dass antisemitisches Sprechen, wie allgemein Hate Speech, eine Normalisierung erfährt und damit zunehmend wieder salonfähig wird“, sagt der Experte. Auch die Corona-Pandemie hat dazu beigetragen, dass antisemitische Verschwörungserzählungen zunahmen.
Studien und Erhebungen
In Österreich gibt es zu Antisemitismus Erhebungen der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, des Parlaments sowie des Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) – alle Berichte zeigen, dass antisemitische Einstellungen und Vorfälle auch hierzulande zugenommen haben und dass Antisemitismus in allen Bevölkerungsschichten, unabhängig von politischen Einstellungen und sozialer Zugehörigkeit, auftritt. Aktuelle Daten des European Leadership Network zeichnen ein düsteres Bild, denn Vorurteile gegenüber Jüd*innen haben europaweit zuggenommen – und das drastisch, wie etwa die Die Presse berichtete.
Aufklärung und Engagement
Um Antisemitismus zu bekämpfen, gibt es Gesetze, in Österreich etwa das Verbotsgesetz. Auch Bildung spielt hier eine wichtige Rolle, ob in Schulen, Universitäten, Medien oder Kultureinrichtungen. „Erinnerungsarbeit und Bildung über den Holocaust sind im Kampf gegen Antisemitismus wichtig, das zeigen verschiedene Studien. Jene Menschen, die der österreichischen Erinnerungskultur positiv gegenüberstehen, sind wesentlicher weniger anfällig für Antisemitismus“, sagt Gerald Lamprecht.
Bildungs- und Aufklärungsangebote gibt es viele. Neben den jüdischen Museen, diese befinden sich in Wien, Eisenstadt und Hohenems, die sich der jüdischen Kultur und Geschichte widmen, gibt es zahlreiche Publikationen und Initiativen, die sich gegen Antisemitismus einsetzen. Der Experte nennt einige Beispiele: „Beim Projekt Likrat der Israelitischen Kultusgemeinde besuchen jüdische Jugendliche Schulen, um dort über das Judentum aufzuklären. Auch das Programm des OeAD ERINNERN:AT bietet auf seiner Website www.erinnern.at zahlreiche didaktisch aufbereitete Materialien zur Holocaust Education, zur jüdischen Kultur und Geschichte sowie zum Thema Antisemitismus an.“
