Mitten in der Großstadt Madrid versuchen Spaniens Jugendliche die vom Staat aufgerissenen Löcher in der Gesellschaft zu kitten. 15-M nennt sich die Bewegung, die von der Straße aus, die graue Zukunft der jungen Generation bunter gestalten will. Gestrichene Sozialleistungen, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und die Wirtschaftskrise haben die Jugend geschockt. Durch 15-M entstand daraus aber keine Starre – der Frust wurde in Energie und Aktion umgewandelt. Spanien zeigt vor, was auch in Westeuropa ein Trend der kommenden Jahrzehnte werden könnte: der klassische Generationenvertrag zählt nicht mehr. Für ihre Studie wurde Marlene Heinrich, gemeinsam mit ihrer Kollegin Marion Totter (beide kommen von der Wirtschaftsuniversität Wien – Forschungsvertrag Ruth Simsa), der Generationengerechtigkeits-Preis 2013/2014 der deutschen Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen verliehen.
Wir haben mit Marlene Heinrich gesprochen. Hier 7 Dinge, die wir von ihr gelernt haben.
1. Der Generationenvertrag
„Da steht nichts anderes drin, als dass es die Kinder einmal besser haben sollen als die Eltern. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz – jede neue Generation konnte bisher mehr Arbeitschancen, ein größeres Einkommen oder mehr Geld für das Privatleben erhoffen. Einen besseren Lebensstandard als die Elterngeneration. Ich denke, das ist ein global verankertes Ideal.“
2. Utopie und Arbeitslosigkeit
„Der Generationenvertrag hat schon etwas von einer Utopie. Aber wenn man zurückdenkt, war es in Spanien seit dem Ende der Diktatur (1975, Anm.) immer so, dass die Kinder ein besseres Leben hatten als die Eltern, dass der Lebensstandard gestiegen ist. Nach der Einschätzung der heutigen Jugendlichen ist das aber vorbei. Es gibt eine enorm hohe Arbeitslosigkeit, bei Jugendlichen liegt sie um die 50 Prozent. Die jungen Leute teilen ihren Wohnraum oder müssen bei den Eltern oder Großeltern wohnen. Besonders auffällig ist, dass eine höhere Bildung die Chancen auf Arbeitslosigkeit sogar noch erhöht. Da geht es um gut gebildete, engagierte Leute, die über die wirtschaftliche Lage Bescheid wissen und auch wissen, was ihnen zustehen würde. Es kann nicht sein, dass ein Medizinstudium nur mehr einen Hilfsjob einbringt. Hier sollte man Arbeitsplätze schaffen und investieren.“
3. Revoltierende Omas
„Die Jugend ist die treibende Kraft der Proteste, aber die ältere Generation lässt sich anstecken. Die Jungen haben gesagt: „Ihr habt jetzt 20, 30 Jahre geschlafen und nichts für unsere Zukunft gemacht. Mittlerweile ist das System so schlecht – ihr müsst nun auch etwas tun!“ Und die Älteren tun auch etwas. Am 15. Mai 2011 kam es zu einem riesigen Protest, die Bewegung, die daraus entstand nennt man heute 15-M. Arbeitslose, Jugendliche, Obdachlose und die Generation der Großeltern haben sich alle angeschlossen. Es gab nachbarschaftliche Initiativen und Essensausgaben. Die Großelterngeneration hat eine eigene Strömung gebildet, sie sahen sich als Kinder der 15-M Bewegung. Die Jungen hat man damals als perroflautas, als flötenspielende Taugenichtse beschimpft. Das haben die Großeltern übernommen und sich selbst als yayoflautes, als flötenspielende Omas und Opas bezeichnet. Auch sie gingen auf die Straße. Wer immer sich damit identifiziert, wird zum Teil der Protestgemeinde. Da spielt es keine Rolle, ob alt oder jung. Wer empört über die Zustände ist, wird zum Indignado.“
4. Ein Erlebnis, das sie nicht vergisst
„Dass man in den besetzten Häusern alle trifft. Das ist nicht wie bei uns, dass dort Menschen am Rande der Gesellschaft leben würden. In Madrid trifft man dort Kinder, Erwachsene und Großeltern. Jeder Berufsstand ist vertreten. Da gibt es einen Gemeinschaftssinn, den ich bei uns nicht finde. Nachbarschaftliche Initiativen etwa. Wenn man seinen Nachbarn kennenlernt und erfährt, dass er oder sie die gleichen Probleme hat, dann ist das kein Fremder mehr. Das war eine beeindruckende Solidarität inmitten der Großstadt Madrid. Die Nachbarn sehen die besetzten Häuser auch nicht abwertend. Die machen, was der Staat nicht mehr leisten kann – so sieht man das. Ich sehe aus meinem Fenster gerade auf ein besetztes Haus in Wien. Das wird von der Gesellschaft völlig anders wahrgenommen. In Madrid geht jeder hin, holt was er braucht und gibt was er kann. Ganz anders als hier.“
5. Die Protestbewegung 15-M
„Es gibt verschiedene Versionen wie es dazu kam. Fest steht, dass am 15.Mai 2011 an der Puerta del Sol eine große Demo veranstaltet wurde. Es herrschte Aufbruchsstimmung und eine Gruppe von Aktivisten beschloss an der Puerta del Sol zu übernachten. Die Polizei ging dann brutal gegen die Aktivisten vor und räumte die Veranstaltung. Zu den Gegenprotesten strömten Tausende. Sie organisierten sich und bauten so etwas wie eine kleine Stadt auf. Mit einer enormen Infrastruktur: es gab Bildung, Essen und Verantwortliche für die Sauberkeit des Camps. Solange man nicht versuchte, das Camp politisch zu vereinnahmen, war jeder willkommen.“
6. Die aktuelle Stimmung in Spanien
„Seit August, als ich zuletzt dort war, hat sich die Stimmung verschoben. Damals war man noch sehr euphorisch, eine neue Linkspartei (Podemos – wir können, angelehnt an Barack Obamas Slogan Yes we can!, Anm.) hat sich im Jänner 2014 aus der Protestbewegung gebildet. Ähnlich zur griechischen Syriza. Der Weg in die Institutionen funktioniert also, die Partei liegt in den Umfragen an erster Stelle. Es gibt nun aber viel Arbeit, viel Organisatorisches zu erledigen. Da kommt schon ein bisschen Frust durch. Man ist aber nicht deprimiert, sondern konstruktiv. Trotz der Arbeitslosigkeit herrscht eine den Umständen entsprechende gute Stimmung.“
7. Das gemütliche Österreich
„Generationengerechtigkeit ist hier eigentlich noch kein Thema. Vielleicht, weil wir die Armut noch zu wenig spüren. Oder weil wir uns mit anderen Ländern vergleichen und nicht so sehr mit der Generation unserer Eltern oder Großeltern. Im Vergleich zu anderen geht es uns ja gut. Ich würde mich nicht behaupten trauen, dass es mir besser geht als meinen Eltern etwa. Das sieht man einfach noch nicht. In Österreich sind die Politiker trotz aller Kritik immer noch Hoffnungsträger, ganz anders als in Spanien. Dort wurde traditionell nicht gerne über Politik gesprochen. Heute aber sprechen die Jungen wieder darüber. Was wir in Österreich also eher in den politischen Institutionen belassen, das regeln die Spanier wieder mehr lokal – in der Nachbarschaft, durch Gemeinschaftssinn und Solidarität.
Was wir lernen könnten? Nicht wegzusehen und gegen die Anonymität aufzutreten. Wieder mehr auf gegenseitige Hilfe und lokale Initiativen setzen. Wir sollten die Lage nicht eskalieren lassen wie in Spanien, wo teilweise 2-3 Familien in einer Wohnung leben und Kredite massenweise nicht beglichen werden können. Dem sollten wir entgegenwirken.“
Die ausgezeichnete Arbeit von Marlene Heinrich und Marion Totter gibt es hier nachzulesen: SRzG_12 10 _Heinrich_Totter
Das erste Foto unseres Beitrags stammt von gdelarco und trägt den Titel Yo también soy perroflauta – Ich bin auch ein Perroflauta. Es unterliegt der Lizenz CC BY-NC-SA 2.0. Alle anderen Fotos stammen von Marlene Heinrich.